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Landeshauptstadt: Raus aus der Isolation

Wer weder richtig hören noch sehen kann, braucht ein ganz besonderes Lebensumfeld. Im Babelsberger Oberlinhaus werden seit 125 Jahren taubblinde Menschen versorgt und beraten

Babelsberg - Die Waschmaschine läuft im Schleudergang. Jennifer Gaster kniet auf dem Fußboden vor dem Elektrogerät und drückt ihren Kopf fest gegen das Bullauge, so als wolle sie hineinkriechen. Dabei lächelt sie entspannt. Jennifer Gaster, eine zarte 21-jährige Frau, die aussieht wie eine Zwölfjährige, kann die Waschmaschine nicht hören und nur schwach mit den Augen wahrnehmen. Das starke Vibrieren ist für sie eine Abwechslung wie Musik oder Fernsehen. Erst als das Programm beendet ist, lässt sie sich von einem Betreuer an die Hand nehmen und geht Mittag essen – im Kompetenzzentrum für Taubblinde des Oberlinhauses.

In der Einrichtung in Babelsberg wird seit 125 Jahren Taubblindenarbeit geleistet und jetzt mit einer Themenwoche gewürdigt. 1887 wurde hier das erste Kind, die zehnjährige Hertha Schulz, mit einem solchen Krankheitsbild aufgenommen, wenig später begann bereits die systematische Förderung von Menschen mit diesen komplexen Einschränkungen. Heute ist das Zentrum eines von etwa fünf in ganz Deutschland, die sich auf diese Klientel spezialisiert haben.

Das Angebotsspektrum der Einrichtung ist so breit und individuell wie die Bedürfnisse und Voraussetzungen der Menschen, für die das Haus da sein will. „Zu uns kommen Kinder und Erwachsene, von einem halben Jahr bis zum Alter von 98 Jahren“, sagt Diplompsychologin Katherine Biesecke, seit 2006 Leiterin des Kompetenzzentrums. Derzeit leben 43 Erwachsene sowie 20 Kinder und Jugendliche in den Wohneinrichtungen, einige der Erwachsenen besuchen die Werkstätten auf Hermannswerder, einige der Kinder die Taubblindenschule. Nicht alle 38 Kinder der Schule seien wiederum in der Wohnstätte untergebracht, so Biesecke.

Manchmal sei es der wichtigste und schwerste Schritt für die Eltern, sich zu entscheiden, das Kind nicht mehr zu Hause zu betreuen, sagt die Leiterin aus eigener Erfahrung. Das habe nichts mit dem Grad der Behinderung zu tun: Möglich gemacht werden könne Vieles, sagt Biesecke. Sie hat Familien erlebt, die praktisch ständig eine Krankenschwester zur Seite hatten. Aber ob das immer das Beste für das Kind und die Familie ist?

„Bei uns ist das Kind zuerst einmal Kind, kein Patient“, sagt sie. Das bedeutet, dass es nicht in Watte gepackt, sondern auch gefordert wird. Sie schildert einen krassen Fall: Ein Mädchen sei sehr schwierig, hieß es, es müsse immer ruhiggestellt und fixiert werden, weil es sich sonst selbst verletze. „Wir haben sie zu uns genommen und gespürt: Sie war nur völlig irritiert und frustriert, weil sie nicht wusste, was mit ihr los war und sie das nicht kommunizieren konnte.“

Aber ohne Sinne gibt es keine Kommunikation. Die Bewohner im Oberlinhaus kommunizieren trotzdem miteinander. Jeder verfügt über ein anderes Sinnesspektrum. Ein Restvermögen Sehen, ein Restvermögen Hören, oder nichts von beidem. Sprache oder keine Sprache, wenn ja, dann welche? Gebärdensprache, Handalphabet, Lautsprache?

Die Sprache ist die Tür zwischen der Welt des Menschen und seiner Umwelt. Diese gelte es zu öffnen und offen zu halten, damit die Person sich nicht isoliere. Wer weder sehen noch hören kann, für den endet die Welt quasi am Ende seines Arms. Das sei der Grund, sagt Biesecke, warum eine Hör- oder Sehbehinderung so früh wie möglich erkannt und entsprechend behandelt werden muss, sagt sie mit Nachdruck. Seit ein Hörtest obligatorisch zum Neugeborenenscreening gehört, werden tatsächlich mehr Kinder mit Auffälligkeiten entdeckt. Einer Diagnose folgt sofort die umfassende Elternberatung, zum Beispiel bei der ambulanten und mobilen Beratungsstelle, wo eine Kollegin arbeitet, die selbst hörbehindert ist: „Wegen ihrer Fachkompetenz“, sagt Biesecke. Die Eltern werden bei der Suche nach einer geeigneten Kita oder Schule unterstützt, die Erzieher eventuell beraten. Es gilt, technische Hilfsmittel, Brillen, Hörgeräte, Implantate, um die Symptome abzumildern, in Betracht zu ziehen. Weil die Hirnreifung im Kleinkindalter statt findet, müsse außerdem so früh wie möglich mit einer Förderung begonnen werden. Manche Kinder schaffen sogar den Übergang in die Regelschule, sagt Biesicke.

Auch Erwachsene brauchen eine Alltagsstruktur, zum Beispiel Arbeit in den Werkstätten, einen abwechslungsreichen Alltag im Tagesbereich. Bewusst habe man sich im Oberlinhaus entschieden, eine Trennung von Wohn- und Tagesbereich zu schaffen. Es gibt sogar unterschiedliche Betreuerteams. „Wir gehen jeden Tag spazieren, bei jedem Wetter, um die Jahreszeiten zu erleben, zu erspüren, machen Ausflüge zum Reiterhof, Dampferfahrten, Radtouren mit dem Tandem“, sagt Biesecke. Zum Alltag gehören auch Einkaufen und Straßenbahnfahren. Viele gehen sehr gern ins hauseigene Schwimmbad. Das strukturierte Leben gibt den Menschen Halt, und obwohl vielen eine Vorstellung von Wochentagen oder gar Uhrzeiten fehlt, sind sie fest mit den Abläufen vertraut – und fordern diese ein. „Das ist auch eine Art Kommunikation, zu zeigen, ich weiß Bescheid, jetzt ist dieses dran oder jenes“, meint Biesecke. Ein Bewohner arbeitet so gern in der hauseigenen Werkstatt, dass Feiertage für ihn sehr problematisch sind. „Wir müssen ihm für die Wochenenden andere Merkmale geben, Freitag ist Heimfahrt zum Beispiel, oder Sonntag gibt’s ein Frühstücksei.“

Am Mittwoch um 15 Uhr findet der erste Spatenstich für einen Sinnesgarten vor dem Hertha-Schulz-Haus, dem Wohnhaus für taubblinde Kinder und Jugendliche im Oberlinhaus, statt: Der Potsdamer Lions Club Sanssouci hat dafür Geld gespendet.

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