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PYAnissimo: Harzreise oder warum ich ratlos bin

Als wir das Wochenende auf dem Brocken buchten, hatte das Datum der Bundestagswahl noch nicht festgestanden. Nun saßen wir am Vorabend der Wahl mit Freunden aus dem Westharz im Hotel, das früher ein Fernsehturm war, es soll der erste weltweit gewesen sein.

Als wir das Wochenende auf dem Brocken buchten, hatte das Datum der Bundestagswahl noch nicht festgestanden. Nun saßen wir am Vorabend der Wahl mit Freunden aus dem Westharz im Hotel, das früher ein Fernsehturm war, es soll der erste weltweit gewesen sein. Das Haus ist ein Klotz, 52 Meter hoch. Wir saßen im Restaurant im siebenten Stock, draußen alles weiß, nachdem eine Nebelwand den blau-himmeligen Spätsommertag innerhalb von Minuten beendet hatte und alle Tagesgäste spätestens mit der letzten Bahn verschwunden waren. Wir wechselten vom Experiment mit Schierker Feuerstein zum Rotwein und redeten über das Bildungssystem, über Verbrennungsmotoren und ich verstand endlich das Prinzip des Wasserstoffmotors. Das ist die Zukunft, sagte unser Freund. Wir redeten auch über Politik, aber nur ganz vorsichtig. Der Nebel lullte uns ein, wer wollte schon darin herumstochern.

Morgens herrschte noch immer dichte Suppe, die ersten Mountainbiker radelten schon vor dem Frühstück los, mitten rein ins Nichts, in die surreale Stille des Berges. Vielleicht mussten sie noch wählen. Wir waren Briefwähler und ich hätte gerne länger auf dem Zauberberg verweilt. Wo angeblich Heinrich Heine schon die Aussicht vermisste, wo Goethe gewandert war, wo Bismarck seine künftige Frau getroffen haben soll. Wo die Russen ab 1947 gehaust hatten und die Stasi ins Land hineinhorchen ließ.

Der Brocken, er war auch Sehnsuchtsort meines Großvaters aus Wernigerode. Er schleppte uns Enkel auf geheimen Wegen, immer knapp am Grenzgebiet vorbei, auf die dem verbotenen Gipfel nächstgelegenen Klippen. Dort picknickten wir mit Broten und gekochten Eiern, mit schöner Aussicht und manchmal auch mit Wut im Bauch gegen die da oben.

Am Sonntag kehrt ab 18 Uhr die Wut zurück. Mir schießen nachts komische Ideen in den Kopf. Ich möchte in meinem Mietshaus einen Zettel aufhängen: „Jeder Fünfte – wer von Euch war’s?!“ Ich ertappe mich bei einer Nachbarschaftsanalyse: Wer passt in welche Schublade – Anhänger, Sympathisant, Protestler? Wer von denen, die immer höflich grüßen und einem die Tür aufhalten? Die ihren Müll trennen, zwei Mal im Jahr in den Urlaub fliegen und alle drei Jahre ein neues Auto fahren? Alles Alternative? Aber was, wenn ich falsch liege? Es rührt in meinem Kopf. Ich bin ratlos, ich möchte niemanden falsch verdächtigen. Aber wann haben wir schon mal über Politik geredet im Hausflur? Oder wenigstens über das Wetter, Haustiere, Probleme mit den alten Eltern oder das Elektroauto der Müllers, das man nicht mehr hört, wenn es angefahren kommt. Kann richtig gefährlich sein.

Jetzt kommt was anderes Gefährliches vergleichsweise geräuschlos angerollt. Dabei kann es unmöglich 21,5 Prozent so schrecklich schlecht gehen. Unsere Kellnerin im Brockenrestaurant, junge Frau mit blonder Zopffrisur, war gut drauf, obwohl das Hotel seit dem Londoner Hochhausbrand unter Beobachtung vom Bauamt steht und der Betreiber Angst vor einer Schließung hat. Vor 140 Jahren war Fachkräftemangel das größte Problem vom Brockenwirt: „Da jährlich das Dienstpersonal wechselt, so bitte ich etwaige Beschwerden über selbiges sofort an mich zu richten“, schreibt er 1878. Klingt nicht nach Jammerei. Das finde ich gut.

Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg

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