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Auf den Spuren des Vaters. Hubertus Venzlaff erkundet im früheren KGB-Gefängnis, unter welchen Bedingungen sein Vater dort einst inhaftiert war und verhört wurde. Der Vater wurde anschließend als Zwangsarbeiter in einen Gulag geschickt.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Puzzleteile der Geschichte

Hubertus Venzlaff berichtete in einem Zeitzeugengespräch in der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße über das Schicksal seines Vaters

Es ist kalt und ungemütlich. Grelles Kunstlicht erleuchtet den Gang im Zellentrakt des ehemaligen KGB-Gefängnisses in der Leistikowstraße 1. Ein Blick in die Zellen im Keller des einstigen Untersuchungsgefängnisses zeigt enge Räume, in die nur wenig Tageslicht durch enge Fensterluken gelangt. In die kahlen Wände sind Buchstaben geritzt. Auf breiten Holzpodesten schliefen die Gefangenen – manchmal dicht nebeneinandergedrängt. „Wenn man sich vorstellt, dass es komplett dunkel ist und die Türen verschlossen sind, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie furchtbar das gewesen sein muss“, sagt Hubertus Venzlaff.

Den 77-Jährigen verbindet eine persönliche Geschichte mit diesem Ort: 2015 erfuhr er – per Zufall –, dass sein Vater hier mehrere Monate festgehalten wurde. „Ich wusste zwar, dass er in Potsdam inhaftiert war, aber nicht wo.“ Über Freunde, die sich im Gedenkstättenverein engagieren, erfuhr der Berliner, dass der KGB in der Leistikowstraße ein Militärgefängnis unterhielt. Und tatsächlich brachte ein Blick in die Datenbank schließlich Gewissheit: Im elektronischen Haftbuch der Leistikowstraße, das die Namen von etwa 600 ehemaligen Häftlingen enthält, taucht auch der Name Johannes Venzlaff, Geburtsjahr 1882, auf.

„Im November 1950, einen Tag nach meinem zwölften Geburtstag, wurde mein Vater in Bad Freienwalde verhaftet“, erzählt Hubertus Venzlaff. „Ich kam nach Hause und er war nicht mehr da.“ Mehr als drei Jahre lang blieb die Familie ohne Hinweise auf den Verbleib des Vaters und ohne ein Lebenszeichen.

Auch über die Gründe der Verhaftung erfuhr die Familie nichts. Gerüchte über eine Spionagetätigkeit seines Vaters machten die Runde. Für Hubertus Venzlaff hatte dies dramatische Konsequenzen: „Als Sohn eines Schwerverbrechers war ich geächtet, ich hatte keine Chance auf eine gute Schulbildung.“ Die Mutter umging schließlich dieses Dilemma und schickte ihren Sohn auf ein Internat in West-Berlin.

Währenddessen wurde Johannes Venzlaff nach mehrmonatiger Haft in der Leistikowstraße schließlich zu 25 Jahren Zwangsarbeit im Gulag Taischet in Transsibirien verurteilt. Doch nach dem Tode Stalins 1953 wurden Tausende Gulag-Häftlinge begnadigt. Darunter auch Johannes Venzlaff, dessen Lagerhaft im Januar 1954 endete.

Eine Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone vermied er. „Es gab Fälle, in denen die Rückkehrer in der DDR erneut verhaftet wurden“, berichtet Hubertus Venzlaff. Stattdessen fand Johannes Venzlaff zunächst Unterschlupf bei Verwandten in West-Berlin. Zum Wiedersehen mit dem Sohn kam es erst mehrere Monate später: „Als ich die Nachricht erhielt, dass mein Vater zurück war, verbrachte ich gerade ein Jahr in Frankreich bei einem Schüleraustausch. Auf Wunsch meines Vaters blieb ich noch dort. Als ich ihn schließlich sechs Monate nach seiner Rückkehr wiedersah, war er so, wie ich ihn in Erinnerung behalten habe“, erzählt der Sohn nun mehr als 60 Jahre später.

Über seine Haftzeit in Potsdam und später in Transsibirien schwieg der Vater größtenteils. Klar ist jedoch: In der Leistikowstraße erlebten die Häftlinge Furchtbares. Die Verhöre fanden in der Nacht statt, es wurde mit Schlafentzug und anderen Foltermethoden gearbeitet.

Die Rekonstruktion der Ereignisse ist schwierig. Fakt ist jedoch: Johannes Venzlaff hatte tatsächlich Kontakt zu Hans Erdler, einem ehemaligen NS-Spion, der nach dem Krieg die Seiten wechselte. Dessen Ziel sei es gewesen, eine Guerilla-Kampftruppe gegen die sowjetische Besatzung im Raum Eberswalde aufzustellen, erklärt die Historikerin Ines Reich, Gedenkstättenleiterin in der Leistikowstraße. Johannes Venzlaff sollte Berichte über die Aktivitäten der Russen im Raum Bad Freienwalde liefern, Fahrzeuge beobachten, Kennzeichen notieren. Dafür zahlte er einen hohen Preis.

Das Schicksal von Johannes Venzlaff ist eines von vielen, das in mühsamer Detektivarbeit von Mitarbeitern der Gedenkstätte erforscht wird. Oft sind nur wenige Informationen über die ehemaligen Häftlinge bekannt – mitunter nur der Vorname. Dann heißt es, Angehörige ausfindig zu machen, in Archiven nach Informationen zu suchen, Verhörprotokolle zu durchforsten, Einsichten in Dokumente und Ermittlungsakten zu bekommen. Bis zu zwei Jahre habe sie schon nach Personen gefahndet, erzählt Ines Reich. Weit mehr als 100 ehemalige Häftlinge oder deren Angehörige hat sie in den letzten Jahren begleitet. „Man begibt sich gemeinsam mit den Betroffenen auf die Reise, die einzelnen Puzzleteile eines Lebens zusammenzusetzen.“

Dabei geht es häufig nicht nur um die Rekonstruktion der Schicksale, sondern auch um die Rehabilitation der ehemaligen Häftlinge. Und um Forschungsarbeit. „Gedenkstätten erinnern nicht nur und bewahren, sie besitzen auch ein großes Forschungs-Know-how. Und nur so können wir letztlich Bildungsarbeit leisten“, so Reich.

„Es fühlt sich schon komisch an“, sagt Hubertus Venzlaff über seinen Besuch in jenen Räumen, in denen sein Vater länger als ein halbes Jahr litt. „Gedenken braucht einen Ort – aber das hier ist viel mehr.“

Heike Kampe

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