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Die Angeklagte vor dem Potsdamer Landgericht.

© Carsten Koall/dpa

Prozessauftakt im Fall Oberlin: Angeklagte schwerst belastet

Vor dem Potsdamer Landgericht spricht die angeklagte Pflegekraft Ines R. ausführlich über ihre schwere Kindheit und ihre Arbeit im Babelsberger Oberlinhaus. Zum Vorwurf, dort vier Menschen getötet zu haben, schweigt sie.

Potsdam - Sie redet. Über eine Stunde lang spricht die Angeklagte Ines R. in Saal 8 des Potsdamer Landgerichts über ihr Leben. Die verkorkste Kindheit mit einer Mutter, von der sie sich nicht geliebt gefühlt habe. Von psychischen Problemen, die schon im Vorschulalter begonnen haben sollen, Ängsten, Albträumen, dem Eindruck, anders zu sein. Dem Problem, keine Freundschaften schließen zu können. 

Die Frau, der vierfacher Mord und weitere Straftaten zur Last gelegt werden, berichtet von ambulanten und stationären Therapien, von Suizidversuchen, Burnouts, einer schweren Depression. Von der späteren Belastung mit zwei Kindern, von denen eines behindert ist, eines schwer krank war. Von einer Abtreibung und einer Fehlgeburt. Von dem Druck, den Kredit für ihr Haus in Potsdam abbezahlen zu müssen. Und von ihrer Arbeit als Pflegekraft für behinderte Menschen im Babelsberger Oberlinhaus, bei dem sie rund 30 Jahre beschäftigt war. Von der „Berufung“, der ihr Beruf sei, und von den enormen Arbeitsbelastungen durch zu wenig Personal. Statt drei seien in den Abendstunden oft nur zwei Pflegekräfte anwesend gewesen. „Wenn das auf Dauer so ist, ist es nicht machbar“, sagt R. Kollegen hätten Überlastungsanzeigen gestellt, aber reagiert worden sei nicht. 

Vier Menschen mit Behinderung wurden getötet 

Klar, sortiert, detailliert spricht Ines R. über sich selbst. Aber wozu die 52-Jährige nichts sagt am ersten Prozesstag im Potsdamer Mordprozess sind die Opfer. Zwei 31 und 42 Jahre alte Frauen und zwei Männer im Alter von 35 und 56 Jahren, die ihr anvertraut waren. Vier Menschen, die teils seit ihrer Kindheit im evangelischen Oberlinhaus gelebt haben und trotz ihrer massiven Beeinträchtigungen noch ein langes Leben vor sich gehabt hätten. Denn die Behinderungen, im Fall der 42-Jährigen etwa die Folge eines schweren Autounfalls, hätten nicht zum baldigen, natürlichen Tod geführt, wie ein Gerichtsmediziner im Prozess ausführt. „Sie waren alle in einem guten Pflegezustand“, sagt er. 

Im Gedenken an die Opfer standen vier Rollstühle beim Gedenkgottesdienst in der Nikolaikirche nach der Bluttat. 
Im Gedenken an die Opfer standen vier Rollstühle beim Gedenkgottesdienst in der Nikolaikirche nach der Bluttat. 

© Soeren Stache/dpa

Sie gab an, nur Zigaretten holen zu wollen 

Doch Ines R. äußert sich vorerst nicht zur Tat, die ihr zur Last gelegt wird und für die es auch nach dem ersten Prozesstag am Dienstag keine Erklärung gibt. Die Pflegerin soll vor sechs Monaten, in der Nacht vom 28. April, während ihres Spätdienstes im Thusnelda-von-Saldern-Haus, einem Oberlin-Wohnheim für Menschen mit schwersten und mehrfachen Behinderungen, vier wehrlose, gelähmte Bewohner heimtückisch mit einem Messer getötet und eine weitere, 43 Jahre alte Frau schwer verletzt haben. Eine Gutachterin, mit der R. nach ihrer Festnahme und Einweisung in die geschlossene Psychiatrie in Eberswalde gesprochen hat, ging in einer vorläufigen Stellungnahme wegen der psychischen Erkrankung von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit aus.  

Der Einschätzung folgt auch die Staatsanwaltschaft – stellt aber in der Verlesung der Anklageschrift gleichzeitig heraus, dass die mutmaßliche Täterin sehr planvoll vorgegangen sei. Die 52-Jährige habe gewartet, bis die beiden anderen Pflegekräfte – am Tatabend waren also drei und nicht wie es laut Ines R. oft der Fall gewesen sein soll nur zwei Mitarbeiter im Dienst – in anderen Teilen der Station beschäftigt gewesen seien. Dann sei sie in zwei Zimmer geschlichen und habe zunächst versucht, zwei Bewohner zu erwürgen. Das sei ihr „zu anstrengend geworden“, so Staatsanwältin Maria Stiller. Also sei sie in den Aufenthaltsraum gegangen und habe ihren Beutel mit persönlichen Sachen geholt.

Einem Kollegen habe sie gesagt, sie gehe nur kurz Zigaretten holen. Doch stattdessen sei sie zurück in die Einzelzimmer geschlichen, habe ein mitgebrachtes Messer aus ihrem Beutel geholt und den fünf Bewohner damit in den Hals geschnitten. Während die eine Frau gerettet werden konnte, kam für die anderen Opfer jede Hilfe zu spät. Sie verbluteten laut Obduktionsbericht in ihren Pflegebetten. Ein grünes Keramikmesser, wie man es in der Küche benutzt, fand die Polizei bei der Spurensuche, weggeworfen auf dem nahen Mitarbeiter-Parkplatz von Oberlin an der Glasmeisterstraße.

Das Thusnelda-von Saldern-Haus in Babelsberg. 
Das Thusnelda-von Saldern-Haus in Babelsberg. 

© Andreas Klaer

Mit elf Jahren wollte sie sterben, sagt die Angeklagte 

Als der Obduktionsbericht vorgetragen wird, Tatortfotos am Richtertisch gesichtet werden, sitzt Ines R. in sich gekehrt an ihrem Platz, schließt die Augen als wäre sie eingenickt. In den Gerichtssaal kommt sie in eine schwarze Jacke gehüllt, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, eine Corona-Schutzmaske vor dem Gesicht. Als die Fotografen und Kameraleute den Saal verlassen und Ines R. ihre Vermummung abnimmt, kommt eine Frau mit langen blonden Haaren zum Vorschein, die Strähnen mit einem Zopfgummi nach hinten gebunden. Jeans, grün-geblümte Bluse. 

Man sieht der gebürtigen Rathenowerin nicht an, was sie beschäftigt, seit ihrer Kindheit schon. Zwei Halbschwestern hat sie, sechs und 17 Jahre älter, beide sind inzwischen gestorben. Mit der jüngeren sei sie gemeinsam aufgewachsen. Die lebhafte Schwester – „ein ganz anderer Typ als ich“ – sei von der Mutter, einer Bürokauffrau, oft geschlagen worden. Sie selbst habe versucht, dem zu entkommen, indem sie gute Noten nach Hause brachte, gehorchte. „Ich wollte alles perfekt machen, damit sie mich nicht auch verprügelt“, sagt R. „Ich mochte meine Mutter nicht.“ Schon deren Geruch habe sie abgestoßen. 

Der Vater, Bauingenieur, sei selten daheim gewesen. Als sie neun war, ließen sich die Eltern scheiden. „Mit elf Jahren wollte ich sterben“, sagt sie. „Wenn du es machst, dann mach es richtig“, habe ihre Mutter gesagt. Der Suizidversuch scheiterte, Ines R. kam für acht Monate in Berlin in die Kinderpsychiatrie, sei in einem Modellversuch mit Medikamenten behandelt worden. „Das war mein Trauma.“ 

Der Ehemann konnte ihr nicht helfen 

Ines R. soll nach der Tat im Oberlinhaus nach Hause gefahren sein, sich ihrem Mann offenbart haben, der dann die Polizei informiert haben soll. Wie ihr Ehemann, mit dem sie seit sie 18 ist mit kurzer Unterbrechung zusammen ist, mit ihren psychischen Problemen umgegangen sei, wird sie vor Gericht gefragt. Er sei verständnisvoll gewesen und ein guter Vater für ihr erstes Kind, das von einem anderen ist, so Ines R. – und trotzdem hilflos. „Wenn ich geweint habe, hat er gesagt, ich kann dir nicht helfen“, schildert Ines R., „ich weiß nicht, wie du dich fühlst“. 

Ein Sohn der Beschuldigten ist selbst behindert 

Die Arbeit bei Oberlin habe ihr Halt und Anerkennung gegeben. „Ich hatte immer alles unter Kontrolle“, sagt sie. 1990 habe sie nach abgebrochener Ausbildung zur Pflegerin in einer Potsdamer Einrichtung für schwerbehinderte Kinder und Jugendliche als Pflegekraft begonnen, die 1993 von Oberlin übernommen wurde. Später habe sie die Hausleitung in den Erwachsenenbereich versetzt – wegen ihrer persönlichen Situation.

Ihr 1994 geborener Sohn ist nach einer Hirnhautentzündung behindert, wird selbst im Oberlinhaus betreut. Ihn wegzugeben, nur am Wochenende zu sich zu holen, sei sehr schwer gewesen. Doch auch für die erwachsenen Heimbewohner habe sie immer alles geben. „Wenn einer einen Tee wollte und kurz darauf wieder, dann habe ich ihm den gebracht“, sagt sie. „Wie ’ne Mama halt.“ 

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