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Die Angeklagte am ersten Prozesstag im Landgericht Potsdam.

© Jens Kalaene/dpa

Prozess wegen mutmaßlicher Kindstötung: Sagt der Hauptzeuge die Wahrheit?

Am Montag gab die Angeklagte am Potsdamer Landgericht eine Erklärung ab. Unterdessen soll ein Gutachter die Glaubwürdigkeit ihres Ex-Ehemanns erschüttern.

Potsdam - Vier Verhandlungstage lang hatte die Angeklagte im Saal 8 des Potsdamer Landgerichts von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Am Montag gab sie um 10.52 Uhr mit fester Stimme überraschend eine Erklärung ab: „Es ist unwahr, dass ich ein Kind erstochen hätte.“

Es waren wenige Worte zu einem möglicherweise komplexen Tatgeschehen, das ihr die Staatsanwaltschaft zur Last legt. Die inzwischen 61-jährige Frau muss sich wegen Totschlags verantworten, weil sie laut Anklage vor 21 Jahren ein Kind zur Welt gebracht und es nach der Geburt in ihrer Wohnung im Schlaatz getötet haben soll. Verhandelt wird der Fall erst jetzt, weil ihr Ex-Ehemann Klaus-Dieter S. seine Frau erst 2017 im Gespräch mit Bekannten und vermutlich auch mit seinem Sohn beschuldigt hatte.

S. hatte wie berichtet am 21. Oktober ausgesagt, er habe seine damalige Frau damals im blutbefleckten Badezimmer vorgefunden und das Baby, das tot in einer Mülltüte gelegen habe, entsorgt.

Zeuge räumte ein, an Demenz zu leiden

Der Auftritt des Hauptbelastungszeugen vor der Schwurgerichtskammer war irritierend. Er erweckte nicht den Eindruck, bewusst die Unwahrheit zu sagen – etwa, um seine Ex-Frau zu belasten. Offen räumte er ein, an Demenz zu leiden. Groß waren die Widersprüche zu seinen Aussagen vor der Polizei. Falko Drescher, der Potsdamer Verteidiger der Angeklagten, hatte schon unmittelbar danach beantragt, einen Sachverständigen zu bestellen, der S. beurteilen soll. Darüber hatte das Gericht bis zum gestrigen Montag nicht entschieden.

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Nun legte Drescher nach: Der Kieler Rechtspsychologe Professor Günter Köhnken möge als Gutachter beauftragt werden, um zu beweisen, dass die Aussagen des Zeugen S. „unzuverlässig und nicht glaubhaft“ seien. Drescher hatte eine Fülle von Gründen zusammengetragen: Es sei von jahrzehntelangem Alkoholmissbrauch, Demenz, einer Intelligenzminderung und möglicherweise dem Korsakow-Syndrom, einer Gedächtnisstörung, auszugehen. Die „Enthüllungen“ des Hauptzeugen hätten „unter Alkoholeinfluss der Gesprächspartner“ stattgefunden.

Verteidiger stellt Glaubwürdigkeit des Ex-Ehemanns in Frage

Punkt für Punkt stellte er dessen Glaubwürdigkeit in Frage. Bei seiner Vernehmung vor der Kammer habe sich S. nicht daran erinnern können, wann und wo er die Angeklagte kennengelernt hatte, wann Heirat und Scheidung waren, wann sein Sohn René geboren sei, welchen Beruf seine geschiedene Frau erlernt hatte und bei welchen Firmen sie arbeitete. 

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Er wusste zunächst wahrheitswidrig nicht mehr, dass seine Frau eine Tochter in die Ehe gebracht hatte und kannte das Datum der deutschen Einheit nicht. Die Tatzeit gab S. mit „in den Siebzigern, so 74“ an – die Staatsanwaltschaft geht von einer Zeit zwischen April und August des Jahres 2000 aus. Staatsanwalt Jörg Möbius plädierte dafür, die Beweisanträge der Verteidigung zurückzuweisen – eine solche Entscheidung des Gerichts aber könnte einem möglichen Revisionsantrag Nahrung geben.

Klar ist seit Montag auch, dass René S., der Sohn aus der Ehe von Marina und Klaus-Dieter S., von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wird. Er war im Dezember 2017, als seine Mutter erstmals in Verdacht geriet, vor der Münchner Mordkommission vernommen worden.

Marina S. sprach am Telefon über die Vorwürfe

Brisant ist, was Rechtsanwalt Drescher dazu vortrug: Laut dem Protokoll der Ermittler habe Klaus-Dieter S. seinem Sohn damals „seine erste Tatversion“ geschildert: Er sei bei der Geburt anwesend gewesen, das Kind sei ertränkt worden. In späteren Versionen sei er doch nicht Tatzeuge gewesen, und das Baby habe Einstichspuren aufgewiesen. Da René S. jetzt vor dem Landgericht die Aussage verweigert, darf auch seine damalige Vernehmung nicht verwertet werden.

Am nächsten Montag ist mit dem bisher wohl dramatischsten Verhandlungstag zu rechnen. Als Marina S. 2017 in Verdacht geraten war, wurde ihr Telefon von der Polizei überwacht. Arglos sprach sie mit Bekannten auch über die gegen sie im Raum stehenden Vorwürfe. Für den fünften Verhandlungstag sind Polizisten geladen, die über diese Ermittlungen berichten sollen. Die Aufnahmen könnten bei der Urteilsfindung eine große Rolle spielen. Denn nach PNN-Informationen soll dabei klar über ein totes Baby gesprochen worden – und, als eine Erklärungsmöglichkeit des Geschehens, das Wort „Fehlgeburt“ gefallen sein. 

Carsten Holm

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