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Überraschend brach die Angeklagte Marina S. im Potsdamer Landgericht ihr Schweigen.

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Prozess um Kindstötung am Landgericht: „Es war ein Mädchen“

Im Potsdamer Kindstötungsprozess brach die Angeklagte Marina S. überraschend ihr Schweigen. Den Vorwurf des Totschlags wies sie zurück.

Von Carsten Holm

Potsdam - Wende im Kindstötungs-Prozess vor dem Potsdamer Landgericht: Überraschend hat die 61 Jahre alte Angeklagte Marina S. am Donnerstag umfassend vor der Schwurgerichtskammer ausgesagt. Dabei wies sie den von der Anklage erhobenen Vorwurf, sie habe zwischen dem 1. April und dem 21. August 2000 ein lebensfähiges Kind zur Welt gebracht und es nach der Geburt getötet, entschieden zurück. Ihrem früheren, seit Jahren von ihr geschiedenen heute 67-jährigen Ehemann Klaus-Dieter St., der sie schwer belastet hatte, warf sie Rache vor.

Ein Prozess ohne Leiche

Es ist ein komplizierter Fall mit einer Fülle widersprüchlicher Zeugenaussagen, der sich vor 21 Jahren im Potsdamer Wohngebiet Schlaatz zugetragen haben soll. Es ist ein Verfahren um den Tod eines Neugeborenen, aber ein Prozess ohne Leiche. Denn das Baby, das die wegen Totschlags angeklagte Potsdamerin nach der Aussage von St. erstochen haben soll, will er kurz nach der Tat in einem Müllsack im Hausmüll entsorgt haben. Die Anklageschrift fußt im Wesentlichen auf seinen Aussagen.

Nach dem Fremdgehen schwanger

Marina S. hatte bisher von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht und sich nur einmal, am fünften Verhandlungstag, geäußert: „Es ist unwahr, dass ich ein Kind erstochen hätte.“ Mit unbewegter Mimik, leiser, kaum hörbarer Stimme, aber präzise im Ausdruck nahm Marina S., die inzwischen mit einem anderen Mann verheiratet ist, nun am gestrigen Donnerstag im Saal 8 des Landgerichts ausführlich Stellung zu den Tatvorwürfen. Sie schilderte ihre Ehe mit Klaus-Dieter St., in der Verständnislosigkeit vorgeherrscht habe. Als ihr Mann sie betrog, wollte sie ihm verzeihen, habe aber später „gemerkt, das ich das nicht kann“. Das Paar habe nebeneinander gelebt, sie habe sich um ihre Tochter Mandy gekümmert, die sie mit in die Ehe gebracht habe, und den gemeinsamen Sohn René. Dann sei es ihr passiert: Ein Fremdgehen mit einem Kollegen nach einer Feier, sie sei schwanger geworden.

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Mit ihrem Mann habe sie darüber nicht gesprochen, „er wäre ausgeflippt“. Sie habe darüber nachgedacht, sagte Marina S., das Kind in einer Klinik entbinden zu lassen und es zur Adoption freizugeben. Dann schilderte sie detailliert den Tag, den die Anklage für den Tattag hält: Sie habe sich am Morgen unwohl gefühlt, sich bei ihrer Arbeitsstelle krank gemeldet und sich dann ein Bad mit Schaum in ihrer Wanne eingelassen, um sich zu entspannen. Als sie in die Wanne gestiegen sei, sei „das Kind rausgeflutscht“. Sie sei ausgerutscht, mit ihrem Kopf gegen den Beckenrand gestoßen und kurz ohnmächtig gewesen. Sie habe die Nabelschnur mit einer Schere abgetrennt und das Baby im Arm gehalten: „Es war tot, es hat auch nicht geschrien“. Die Frage des Vorsitzenden Richters Theodor Horstkötter, ob der Brustkorb des Neugeborenen sich bewegt habe, verneinte sie, auf die Frage, ob sie dessen Geschlecht erkannt habe, die Antwort: „Es war ein Mädchen.“ Die Geburt sei nach ihrer Erinnerung „im Mai oder Juni 1999“ erfolgt.

Blutüberströmt in der Badewanne

Schon bis hierhin widersprach die Aussage deutlich der Darstellung ihres früheren Ehemanns. Der hatte behauptet, eines Tages früher von der Arbeit nach Hause gekommen zu sein und seine Frau in der blutüberströmten Badewanne vorgefunden zu haben. Das tote Baby habe sie schon in einen blauen Müllsack gelegt, er habe es dann entsorgt. So könnte es sich zugetragen haben, wenn man ihrem Ex-Mann folgt. Oder war alles doch ganz anders? Marina S. sagte gestern, ihr Ehemann sei an jenem Tag zur üblichen Zeit von der Arbeit zurückgekehrt und habe von der Geburt nichts bemerkt. Die Wanne sei gesäubert gewesen, das tote Baby habe sie mit der Nabelschnur, der Plazenta und einem Handtuch, mit dem sie das Neugeborene gesäubert habe, in den Müllsack gelegt und ihn im Zimmer ihres Sohns in einen Schrank gelegt. 

Ehemann entdecke den Müllbeutel

René sei damals in das Zimmer seiner Halbschwester Mandy gezogen, die die Familie schon verlassen habe. „Ein, zwei Tage später“ habe ihr Mann den Müllbeutel entdeckt. „Haben Sie ihm gesagt, was passiert ist?“, fragte Richter Horstkötter. „Nein.“ „Haben Sie später mit jemandem darüber gesprochen?“- „Nein.“ Als sie von den Anschuldigungen ihres Ex-Manns gehört habe, sei für sie „eine Welt zusammengebrochen, nervlich war ich total am Ende“. Er sei sehr eifersüchtig gewesen, sie habe die gemeinsame Wohnung verlassen, einen neuen Partner und ein schönes Auto gehabt.

Gab es ein Absprache?

Horstkötter konfrontierte die Angeklagte mit Aussagen aus Telefongesprächen, die die Mordkommission mitgeschnitten hatte. Da erweckten Gespräche den Eindruck, Marina S. wolle sich mit ihrem heutigen Ehemann Mario S. und anderen auf eine Version verständigen, wie das Baby gestorben sei, „Totgeburt oder Fehlgeburt, das klang nach Absprache“, hielt ihr der Richter vor. Das habe sie wohl „nicht richtig rübergebracht“, sagte Marina S. 

Der forensische Psychiater Matthias Lammel aus Berlin hatte als Sachverständiger zuvor darauf hingewiesen, dass die Angeklagte keine Einschränkungen in ihrer Steuerungsfähigkeit habe. Polizeilich bekannt geworden war der Fall, weil Klaus-Dieter St. 18 Jahre danach einem Bekannten erzählt hatte, seine ehemalige Frau habe ein Baby umgebracht – und der schockierte Nachbar am selben Abend die Polizei informierte.

Urteil am nächsten Mittwoch

Für den heutigen Freitag waren die Plädoyers der Anklage und der Verteidigung vorgesehen, am kommenden Mittwoch sollte das Urteil gesprochen werden. Nach der Aussage der Angeklagten sah die Kammer jedoch weiteren Aufklärungsbedarf und hob den heutigen Hauptverhandlungstermin auf. Es ist gut möglich, dass der Hauptbelastungszeuge St. noch einmal geladen wird, um ihn mit der sehr detaillierten Aussage seiner ehemaligen Frau zu konfrontieren. Es geht um viel. Auf Totschlag steht eine Freiheitsstrafe von fünf bis zu 15 Jahren, in minder schweren Fällen von einem bis zu zehn Jahren.

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