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Singen gerne. Der erst dieses Jahr gegründete Chor vom Pflegestift Waldstadt beim gemütlichen Adventssingen. Die blauen Tücher sind ihre Mitgliedsausweise.

© Andreas Klaer

Potsdams ältester Chor: Früher war mehr Gesang

Der Chor im Pflegestift in Waldstadt ist Potsdams ältester und jüngster. Bei der letzten Probe im Jahr gibt es Punsch, Gesang und Erinnerungen an vergangene Zeiten.

Potsdam - Erst wird gelüftet. Wer singt, braucht Sauerstoff. Dann hört alles auf die Chorleiterin: Arme nach oben strecken, runter ziehen, tief einatmen, herzhaft seufzen. Das alles geht auch im Sitzen. Die 17 Chormitglieder, 17 seit heute, ein Herr ist gerade eingetreten, sind allesamt eher wacklig. Im Eingang des Rosenzimmers, wo die Probe stattfindet, stehen mehrere Rollatoren. Manche Sänger sitzen auch im Rollstuhl. Alle sind Bewohner der DSG Pflegeeinrichtung Am Moosfenn in Waldstadt. Die Chorprobe am vergangenen Dienstag ist die letzte im Jahr, und Apfelpunsch und Stolle für die Pause stehen schon bereit. Aber erstmal wird gesungen.

Es ist Potsdams ältester Chor – 89 Jahre ist das Durchschnittsalter der Sänger, zwei von ihnen werden im nächsten Jahr 100. Und es ist vermutlich der jüngste. Denn erst im vergangenen April gründete sich die Singegemeinschaft. „Die Bewohner haben sich das gewünscht, weil sie gerne mehr singen wollen, und zwar gemeinsam“, sagt Birgit Schäferhoff, die hier im Heim als Betreuerin arbeitet und gemeinsam mit ihrer Kollegin Gabriele Pulz das Projekt leitet. Als Betreuerinnen sind sie für die Freizeitgestaltung der Bewohner zuständig, sie bieten Mal- oder Handarbeitskurse an, es gibt eine Sportgruppe, Kegelabende und Filmvorführungen. Und nun auch den Chor.

„Es heißt, überall soll Freude sein – also gucken Sie freundlich“

Seit April wird regelmäßig geprobt. Jedes Mitglied hat einen blauen Schal bekommen, als Erkennungszeichen. Auch Auftritte gab es schon, zum Sommerfest sangen sie ein Medley mit 60er-Jahre-Hits. Schlager wie „Man müsste noch mal 20 sein“ und „Knallrotes Gummiboot“ hat Birgit Schäferhoff zusammengestellt. Auf dem Weihnachtsmarkt des Heims traten sie mit einem Weihnachtsprogramm auf. „Sie sind ganz verrückt nach Auftritten“, sagt Birgit Schäferhoff und lacht. Sie findet ihre Truppe gut, die Probe macht auch ihr Spaß. „Singen ist gut für die Seele und die Gesundheit“, sagt Schäferhoff. „Und wer etwas zu tun hat, sitzt nicht alleine im Zimmer. Singen ist auch ein Antidepressivum.“

Vielleicht wollten sie auch deshalb nicht das Lied „Maria durch ein Dornwald ging“ ins Programm aufnehmen – das fanden sie zu traurig, sagt Schäferhoff. Das Adventssingen beginnt also stimmungsvoll mit „Sind die Lichter angezündet“, Textblätter mit extra großer Schrift werden verteilt. Die Chorleiterinnen spielen dazu Flöte und Gitarre. „Es heißt, überall soll Freude sein – also gucken Sie freundlich“, sagt Schäferhoff. „Guten Abend schön Abend“ – draußen wird es schon dunkel – geht sogar zweistimmig. Textzettel brauchen die wenigsten. Füße wippen mit, auf dem Boden oder den Fußrasten vom Rolli. Vor der offen stehenden Tür bleibt eine Mitarbeiterin kurz stehen und hört zu.

Nie hat der Baum gebrannt, versichern alle

Das Singen gehört für alle unbedingt in die Weihnachtszeit. „Wir haben immer gesungen, mit den Kindern, bei der Arbeit in der Küche oder im Kirchenchor“, erzählt eine Frau. Die Lieder haben sie nicht vergessen, Volkslieder, Kinderlieder, „Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh“ oder die „Blümelein, sie schlafen“, Frau Schulz hat alle Texte noch im Kopf. Früher war sie Horterzieherin, sagt sie. Dann muss sie schnell für alle das Weihnachtsgedicht aufsagen: „Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen.“ Frau Schulz’ Augen leuchten.

Die anderen hören zu und kramen Erinnerungen heraus. Vom Christkind haben sie und ihre Geschwister immer nur einen Schleier gesehen, sagt eine Dame. „Das war meine Tante, die über den Hof weglief.“ Bei anderen gab es auch damals schon den Weihnachtsmann, oder sogar beides. Die Frau aus Schneeberg im Erzgebirge erinnert sich, wie man am Weihnachtstag schon halb fünf aufstand, um in die Christmesse zu gehen. „Sonst bekam man keinen Platz mehr.“ Beim Krippenspiel hat sie auch mitgemacht. Und ist für die Aufführungen über die Dörfer gelaufen. Nicht gefahren. Später, mit ihren eigenen Kindern, wurde Heiligabend immer gesungen, anschließend wurden Spiele gespielt. Am Baum hing selbstgebastelter Schmuck aus Papier oder Holz. Eine Sängerin erinnert sich an einen Kranz mit Flügeln auf der Baumspitze, bewegt durch die aufsteigende Wärme der Kerzen. Echte Kerzen. Nie ist was passiert, sagen alle übereinstimmend, nie hat der Baum gebrannt.

Wenn keine Probe ist, singen die Chormitglieder auch so, im Wohnzimmer, im Bad - bloß Männerstimmen sind Mangelware

So schön wie früher wird es leider nicht mehr, wenn man im Heim lebt. Auch wenn Heiligabend auf den Stationen ein Weihnachtsprogramm stattfindet und musiziert wird. Birgit Schäferhoff bringt dafür ihre großen Kinder mit, die alle ein Instrument spielen. Der Pfarrer kommt leider nur alle zwei Wochen und war gerade da, eine Andacht gibt es also erst am Wochenende danach.

Dann werden die Plastiktassen eingesammelt, der Teller mit den Keksen beiseite gestellt. „Versuchen wir Bruder Jakob als Kanon?“, sagt Gabriele Pulz. Sie teilt ein, erste Stimme, zweite Stimme. Es klappt überraschend gut. Auch die drei Männer, rechts außen auf der Couch, hört man jetzt deutlich heraus. Es ist wie in jedem Chor, Männerstimmen sind Mangelware.

Wenn keine Probe ist, singen sie auch gerne, auf ihren Zimmern oder wenn im Fernsehen ein Weihnachtsprogramm mit Liedern läuft. Herr Behnke singt gern im Bad, wirft er ein, da hallt es so schön. Er wünscht sich für das Faschingsprogramm das Lied „Sabinchen war ein Frauenzimmer“, weil er aus der Sabinchen-Stadt Treuenbrietzen kommt. Neben dem eigenen Musizieren gehen die Heimbewohner auch gern in Konzerte. So sind sie mit einem Kleinbus zu den barrierenfreien Konzerten der Initiative „Konzerte für Menschen mit Demenz“ gefahren. Diese Reihe von der Akademie 2. Lebenshälfte und dem Collegium Musicum Potsdam wird 2018 leider nicht fortgesetzt, sagt Birgit Schäferhoff. Sie werden also selber mehr Musik machen – füreinander. Und ihre Zuhörer. Die nächsten Termine stehen schon: Erst Fasching, dann Frühlingsfest.

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