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Die Potsdamer Zeitzeugin Irmgard Schulz.

© Ottmar Winter

Potsdamer Zeitzeugin Irmgard Schulz: „Kinder, jetzt sind wir dran“

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Irmgard Schulz erlebte diesen Tag in Potsdam. Sie erinnert sich an die Nazizeit, den Mai 1945 und den Neuanfang. 

Potsdam - Der Krieg war am 16. Mai 1945 seit acht Tagen aus. An ein besonderes Gefühl von Befreiung kann sich Irmgard Schulz, ihr Leben lang Potsdamerin, heute nicht mehr erinnern. An Einzelheiten schon. Vor allem dieses eine Datum ist fest im Gedächtnis der heute 93-Jährigen geblieben: der Tag, an dem sie und ihre Mutter dann doch noch, nach der Bombennacht im April, in der Potsdams Altstadt zerstört wurde, ihre Wohnung verlieren: Die Russen schmeißen sie aus dem Haus. „Mit nichts standen wir da“, sagt Irmgard. Nur mal kurz mitkommen sollten sie, und wurden dann verjagt. Weil es ein kühler Tag war, hatten sie sich wenigsten die Wintermäntel übergeworfen. Das Haus neben der Villa Ingenheim in der Zeppelinstraße wurde, wie andere auch, von den Besatzern beschlagnahmt. 

„Ich glaube, hier kamen die ganz scharfen rein, die KGB-Abteilung“, sagt sie. Irmgard Schulz wohnt heute seit 47 Jahren in einer Wohnung in Zentrum-Ost. Damals Neubau und Luxus. Die alte Dame macht noch alles alleine, die Wohnung ist blitzeblank. Bis auf die Spuren am Balkon, dort, wo jemand Halloween Eier an die Fassade geworfen hat. Die Sauerei bekommt sie einfach nicht weg. Das ärgert sie. Von dem Irrsinn ganz abgesehen: Eier werfen? „Ich versteh es nicht, aber die Leute schmeißen ja auch Stullen weg. Und dann gehen sie hamstern. Und kaufen Klopapier!“ Frau Schulz lacht mit einer Mischung aus Humor und Verwunderung. 

„Wir haben uns mit Zeitungspapier den Hintern abgewischt.“ Damals, nach dem Rausschmiss, die Stadt kaputt, Lebensmittelkarten und dennoch nichts in den Läden - was blieb da zum Leben? „Wir sammelten Brennnesseln und kochten sie wie Spinat. Und ob da vorher vielleicht ein Hund drauf gepinkelt hat, das war uns egal.“ Vor einem Jahr schloss sich Irmgard Schulz den Potsdamer „Omas gegen Rechts“ an. Sie wollte etwas tun, damit das nicht wieder passiert, was sie miterlebt hatte, sagte sie, die Älteste der vielen Potsdamer Frauen der Gruppe.

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Irmgard Schulz, heute 93, erinnert sich an viele Einzelheiten aus der Zeit während des Krieges und danach: an Päckchen für Frontsoldaten, Fliegeralarme und verbotene Fragen. 
Irmgard Schulz, heute 93, erinnert sich an viele Einzelheiten aus der Zeit während des Krieges und danach: an Päckchen für Frontsoldaten, Fliegeralarme und verbotene Fragen. 

© Ottmar Winter

Nie auf offener Straße Fragen stellen

1927 wird sie geboren, der Vater arbeitet bei der Handelsmarine, die Mutter ist Hausfrau. 1932 ziehen sie in die Zeppelinstraße 78. Zu den Nachbarn gehört auch der Chauffeur vom Prinzen Eitel Friedrich, der nebenan in der Villa Ingenheim wohnt. Der Sohn der Nachbarn heißt Hans-Jürgen, und es gibt Pläne, einen alten Pferdestall zu Wohnungen umzubauen, eine davon auch für Irmgard und Hans-Jürgen. Ihre große Liebe. „Ich war mit zwölf schon verliebt“, sagt sie. Erstmal wird Irmchen eingeschult, die Schule steht in der heutigen Käthe-Kollwitz-Straße. Es ist 1933, aus dem Guten Morgen zu Unterrichtsbeginn wird Heil Hitler, und Irmgard lernt: Nie auf offener Straße dem Vater Fragen stellen. „Das fragst du mich zu Hause“, sagt er. All diese Sachen, die „den Neuen“ betreffen. So nennt der Vater Hitler. Der Vater mag den Neuen nicht.

Trotzdem tritt Irmgard mit zehn Jahren in den Jungmädelbund der Hitlerjugend ein, das war gar keine Frage, alle taten das. Die Heimabende findet sie befremdlich. Deutsche Mädchen sollen ihre Haare nicht offen tragen, sich nicht schminken und gute Hausfrauen werden, hört sie da. Viel schöner sind Familienausflüge mit dem Segelboot, im Urlaub geht es über die Havel bis Brandenburg. Im Sommer 1937 wird Irmgard schwer krank, Blinddarmdurchbruch, neun Wochen Krankenhaus, fast wäre sie gestorben. Der Arzt im Josefskrankenhaus schreibt ein Attest für das spindeldürre Kind: Nicht wandern oder marschieren, nicht schwer tragen, nicht zelten und im Freien übernachten. Irmgards Glück: Ab sofort muss sie nicht mehr zum Jungmädelbund.

Irmgard Schulz.
Irmgard Schulz.

© Ottmar Winter

Sie lernt Buchhaltung

1940 wird der Vater eingezogen und es gibt erste Fliegeralarme in Potsdam. Sie schlafen in Kleidern, um jederzeit aufspringen zu können. Ein Wassereimer und Decken zum Schutz gegen Brandbomben steht bereit. Einmal gehen Fenster und Türen im Haus zu Bruch, aber das kann der Hausmeister reparieren. Nach der Schulzeit muss Irmgard das von den Nazis eingeführte Pflichtjahr machen, ein Jahr Haushaltsführung bei vornehmen Leuten in Potsdam-West. Sie schuftet, bis sie, unterernährt wie sie ist, krank wird, dann sitzt sie mit Mutter beim Arbeitsamt am Neuen Markt. Eine Lehrstelle finden. In den Aradowerken wäre was, sagt die Frau, da bekommt sie von der Mutter unterm Tisch einen Tritt. Du gehst nicht in die Rüstungsindustrie! Schließlich geht sie zum Nachbarn ins Büro, eine Treppe hoch, und lernt Buchhaltung. Zahlen, Bilanzen, Rechenmaschinen. Es gefällt ihr überraschend gut. 

Aber der Krieg kommt näher. Es herrscht Verdunklungspflicht. Die Häuser alle düster, die Straßenlaternen aus. Sogar die Fenster der Straßenbahnen werden bis auf ein winziges Guckloch schwarz bemalt. „Es gab für die Leute phosphoreszierende Anstecker, damit man sich überhaupt auf der Straße sah.“  Manchmal gehen sie noch tanzen ins Regattahaus am Luftschiffhafen, oder ins Kino. Sie packen Aufmunterungspäckchen für Frontsoldaten. Höchstens 100 Gramm dürfen sie wiegen, das reicht für drei Kekse, ein Stück Schokolade und eine Handvoll Zigaretten. Eingewickelt in hauchdünnes Papier.

Alles bebte stundenlang

Dann kommt die Angst. In der Nacht am 14. April, als Potsdam massiv bombardiert wird, sagt der Nachbar: „Kinder, jetzt sind wir dran.“ Aber sie haben Glück. Nur der Lärm, sagt Irmgard Schulz, der war schrecklich, die Finger in den Ohren halfen wenig, es bebte alles. Stundenlang. Am Tag drauf läuft sie zu den Großeltern in der Breiten Straße. „Da hab ich gesehen, was los war. Und wir mussten aufräumen gehen.“

Hans-Jürgen fällt Ende April in Österreich. „Durch die Stalinorgel ist er ums Leben gekommen“, sagt Irmgard Schulz. „Er liegt jetzt in einem Massengrab. Ich trauere bis heute.“ Viele Jahre später gab es noch mal einen Mann, aber das wurde nichts, und so blieb sie alleine. Mit der Mutter, mit der sie auch die schlimmste Zeit durchmacht. Erst werden sie Zeuge, wie die Russen Anfang Mai drei Männer im Hof erschießen. Der Nachbar schickt die Frauen panisch in Haus. „Zieht die Gardinen zu. Schaut nicht hin, ich erledige das.“ Dann bringt er die Leichen weg. Am 16. Mai der Rausschmiss. Alles ist verloren, bis auf die paar Dinge, die eine Nachbarin, die sich den Russen als Putzfrau anbietet, retten und rausschmuggeln kann. „Ein paar Bilder klaubte sie aus dem Dreck auf dem Fußboden, die haben wir dann mühevoll saubergemacht.“ Gerettet auch der große Teddy, den Irmgard bekam, als sie zwei war. Bis heute hat sie ihn.

Den Teddybär hat Irmgard Schulz seit sie ein kleines Mädchen war.
Den Teddybär hat Irmgard Schulz seit sie ein kleines Mädchen war.

© Ottmar Winter

Die Mutter wird vergewaltigt

In einem Zimmer in der Stadtheide kommen sie damals unter. Die Oma leiht ihnen Geld für die Miete. Irmgard bekommt von Oma auch zwei paar Damenstrümpfe, die truddeln sie gemeinsam auf und Irmgard strickt aus dem Garn einen Kinderpullover, den sie auf dem Schwarzmarkt auf dem Luisenplatz gegen Zigaretten tauscht. Für die Zigaretten bekommt sie 100 Mark. Das sind zwei Monatsmieten und die Rückzahlung der Schulden an Oma, rechnet Irmgard der Mutter vor. Danach dürfen sie in die Wohnung der Tante ziehen, die sich Ende April aus Angst vor den Russen aufgehängt hat.

Die Angst vor den Russen ist berechtigt. „Die Frauen haben sich alle alt gemacht“, sagt Irmgard. Im Oktober 1945 wird die Mutter vergewaltigt, während sie Holzholen ist. ‚Augen zu und durch‘, habe sie gedacht, nachdem sie gesehen hatte, wie die Soldaten einer Frau, die sich weigerte, die Sachen mit dem Bajonett zerfetzten. Komischerweise hätten die Russen der Mutter, wie zur Belohnung, anschließend den Handwagen mit reichlich Feuerholz beladen. Zu Hause bittet sie Irmgard, damals 17, nur um eine Wanne heißes Wasser. „Da wusste ich, was passiert war“. Am nächsten Tag geht sie zur Untersuchung ins Josefkrankenhaus. Dort hätte man ihr auch ein Kind weggemacht, aber die Mutter hat Glück, sie wird nicht schwanger.

In der Nacht erfriert ihre Nasenspitze

Alles ist furchtbar schwer. Die Wohnung hat Pappe in den Fenstern, es gibt keine Betten, die beiden Frauen schlafen auf dem Boden. In dem kalten Nachkriegswinter erfriert Irmgard eines Nachts die Nasenspitze. Aber der Vater lebt, er schreibt aus dem Kriegsgefangenenlager auf Fehmarn. Im Frühjahr 1946 kommt er zurück. Und Irmgard braucht endlich Arbeit. Eines Tages erzählt die frühere Nachbarin, dass die Russen aus der alten Wohnung ausziehen, aber neue kommen sollen. Während sie leer steht, traut sich Irmgard ins Haus um nachzusehen, ob noch etwas ihrer Habe zu finden ist. Draußen wachen Mutter und Nachbarin. Und was für ein Glück, die Nähmaschine steht ist noch da. „Ich dachte nur, Nähmaschine, das ist Geldverdienen“, und sie, das spirrelige halbverhungerte Persönchen, schleppt die schwere Maschine, eine Singer mit gusseisernem Gestell, aus der Wohnung in den Hausflur und auf den Hof. „Ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe.“

Dann wird es endlich besser. Eine zeitlang näht sie in Heimarbeit Kleider, beginnt dann eine Ausbildung als Tanz- und Gymnastiklehrerin. Als die Defa Laiendarsteller sucht, bewirbt sie sich, wird genommen und kann im Film „Der Untertan“ mitspielen. Später tanzt sie sogar im Ballett im Friedrichstadtpalast und landet schließlich – bis zur Rente – im Potsdamer Dokfilmstudio der Defa. Die Eltern von Hans-Jürgen gehen wie viele andere vor dem Mauerbau in den Westen. Irmgard Schulz bleibt in Potsdam. „Das ist doch meine Stadt.“ 1960 kaufen sie und ihre Eltern sich sogar wieder ein Segelboot. Auf einem Foto sitzt Irmgard dort im Bikini, die langen Haare wehen im Wind. Das hätte den Frauen im Jungmädelbund nicht gefallen.

Über Nazis spricht keiner mehr nach dem Krieg. „Die meisten waren doch abgehauen“, sagt Irmgard. 1994, als die Sowjetarmee abzieht, schaut sie sich noch mal das alte Haus in der Zeppelinstraße an. Ins Erdgeschoss hatten die Russen eine Sauna gebaut, im Dachgeschoss Fenster zugemauert, andere willkürlich ins Mauerwerk gebrochen. Das Haus - nicht mehr zu retten. Da nimmt Irmgard endgültig Abschied von dem Ort, wo einmal alles gut war. „Aus meinen schönen Plänen von damals ist nichts geworden“, sagt sie heute. Aber auch: „Ich habe immer wieder Glück gehabt.“

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