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Potsdamer Tischreden: Austausch unter Frauen

Bei den Potsdamer Tischreden am Vorabend des Reformationstages kommen nur Frauen zu Wort - und entwickeln gemeinsam Ideen. 

Potsdam - Es waren überwiegend Frauen, die sich in Umwelt- und Friedensgruppen der DDR engagierten, so die These von Ulrike Häfner, SPD-Mitglied und stellvertretende Bundesvorsitzende der AG Sozialdemokratische Frauen. „Aber nach der Wende gingen die Männer in die Arbeitsgruppen und in die Politik. Die Frauen ließen ihnen den Vortritt.“ Mit diesem ernüchternden Fazit begrüßte Ulrike Häfner als Schirmherrin der Potsdamer Tischreden die diesjährige Tafelrunde in der Nagelkreuzkapelle. Das Thema: Glaube, Liebe, Revolution.

Immer am 30. Oktober, dem Vorabend des Reformationstages, treffen sich hier seit 2014 Frauen zum gemeinsamen Essen, Sprechen und Zuhören. Die Veranstaltung „Frauen reden zu Tisch – Potsdamer Tischreden am Vorabend des Reformationstages“ soll an die Gesprächskultur im Haushalt des Reformators Luther erinnern, so Pfarrerin Cornelia Radeke-Engst. Da hatten die Frauen durchaus viel zu sagen. Später habe die Frauenbewegung die Tradition aufgegriffen und Radeke-Engst brachte das Format Tischreden nach Potsdam. Das Programm: Ein Drei-Gänge-Menü plus Redebeiträge. Die Plätze sind jedes Jahr schnell weg und auch am Mittwochabend war die Tafelrunde ausverkauft. Gut 30 Gäste saßen bei einem vegetarischen Essen vom Blauart-Catering zusammen, dazu spielte die Pianistin Elisabeth Goetzmann am Flügel, natürlich Werke von Komponistinnen.

Frauen unter sich

Die Teilnehmerinnen finden die exklusive Runde durchaus noch zeitgemäß. Männer müssen nicht überall dabei sein, hieß es. „Frauen unter sich entwickeln oft interessante Ideen“, sagte Regine Rüss, Unternehmerin aus Potsdam und zum wiederholten Mal dabei. „Ich habe diese Runde schätzen gelernt“.

Rüss war die erste Rednerin des Abends. Das vorgegebene Thema „Glaube, Liebe, Revolution“ mit Bezug auf den 30. Jahrestag des Mauerfalls spiegle sich in ihrem Lebensverlauf. Als Kind einer christlichen Familie durfte sie kein Abitur machen. Verliebte sich als Schwesternschülerin in einen jungen Mann aus Westdeutschland, stellte einen Ausreiseantrag und wurde dann wieder und wieder von der Stasi zum Verhör geholt. „Es war wie im Film Weißensee. Ich musste stundenlang auf einem Stuhl sitzen, wurde angebrüllt und eingeschüchtert.“ Sie vertraute sich schließlich Christian Rüss an, der in der Lindenstraße eine heruntergekommene Buchbinderwerkstatt aufzubauen versuchte, verliebte sich, blieb in der DDR und gründete mit Christian Rüss eine Familie. Ironie der Geschichte: Sie leben in der Lindenstraße, direkt neben dem Stasigefängnis. Die Wende erlebte sie als Erlösung. „Der Kiez ist heute so bunt, lebendig und vielfältig. Ich wünschte, es bliebe so.“

Frauen müssen dranbleiben

Zweite Tischrednerin war ein Gast aus Niedersachsen. Annette von Pogrell leitet in der Diözese Hildesheim den Caritasverband und ist mit der Arbeit in kirchlichen Gremien, evangelischen und katholischen, vertraut. „In Sachen Ökumene und Frauen muss noch viel passieren“, sagte sie. Im Übrigen sei sie zudem Genossin. Aber auch wenn sie derzeit an der SPD verzweifle, appellierte sie: „Wir Frauen müssen dranbleiben, nur so erreicht man was.“

Berlind Wagner aus Groß Glienicke, Mutter von zwei kleinen Kindern, blieb dran – und wünschte sich für ihren Ort einen Spielplatz. Zwei Jahre habe es gedauert, aber jetzt ist er da, sagte sie. Ein Ort, wo sich auch Familien treffen und ins Gespräch kommen. Wagner arbeitet für den Groß Glienicker Verein Alexanderhaus und organisiert Veranstaltungen für Menschen verschiedenster Herkunft und Religion, oft für und mit Flüchtlingen. Das gelinge schon mit kleinen Initiativen, beim gemeinsamen Kochen oder Sport. Es passe gut zur Geschichte des Alexanderhauses, das Jahrzehnte zwischen den Diktaturen zerrieben wurde.

Helga Schütz las vor

An diese Zeit knüpfte der Beitrag von Helga Schütz an. Die 82-jährige Schriftstellerin, die seit vergangenem Jahr Ehrenbürgerin Potsdams ist, las aus ihrem im Jahr 2000 erschienenen Buch „Grenze zum gestrigen Tag“. Die Leseprobe illustrierte die dramatische Lebenswirklichkeit der DDR nach dem Mauerbau. „Ein typischer Charakter unter typischen Umständen“, sagte Schütz. Die Protagonistin lebt in einem Haus direkt an der Grenze in Groß Glienicke und versucht das Unmögliche: es auszuhalten. Aber das kleine kranke Kind zu Hause wird zunehmend ein Pflegefall, der Grenzhund, den sie füttert, wird so zutraulich, dass er plötzlich ausgewechselt wird, und den hilfesuchenden, geflohenen russischen Soldaten, der eines Tages vor der Tür steht, muss sie wegschicken. Der Satz „Die Mütter hüten das Leben“ klingt beinahe zynisch unter diesen Umständen.

Die Frauen und Mütter des Abends kommen ins Gespräch über ihre eigenen Leben und Erfahrungen. Eine Frau aus dem Westen kann nicht glauben, dass das Schulsystem der DDR so grausam sein konnte und Kindern den Bildungsweg verbaute. Schirmherrin Ulrike Häfner will aus der Runde Anregungen für ihre politische Arbeit mitnehmen. Annette von Pogrell freute sich, die Tafelrunde überhaupt kennengelernt zu haben: „Das gibt es bei uns nicht“. Berlind Wagner wünscht sich, dass gerade die ostdeutschen Frauen sich mehr einmischen und konstruktiv streiten. „Das kann man lernen.“ Pfarrerin Radeke-Engst hofft auf mehr Anerkennung und Dankbarkeit für die Frauen. „Ohne sie wäre die friedliche Revolution nicht möglich gewesen.“

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