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Geschichtensammlerin. Nele Diekmann sucht gemeinsam mit ihrem Mann Marcel vom Lehn lokale Geschichten und veröffentlicht diese, um das Heimatgefühl zu stärken.

© Sebastian Gabsch PNN

Potsdamer Start-up: "HistoriCity" erzählt die kleinen Geschichten eines Ortes

Jede Stadt ist voll von Geschichten. Sie zu recherchieren und zu erzählen, hat sich das Potsdamer Start-up "HistoriCity" zur Aufgabe gemacht: Beispielsweise die einzige Flucht aus der DDR über die Glienicker Brücke.

Potsdam im März 1988. Drei Freunde saßen abends zusammen, redeten und tranken Bier, bis einer von ihnen mit einer Schnapsidee daherkam: Warum nicht über die Glienicker Brücke nach West-Berlin fliehen, jetzt gleich? Gesagt, getan. Alle drei hatten ihren Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee abgeleistet und wussten daher, wie sie von dort an einen Fluchtwagen kommen konnten. Als Fluchtauto sollte ein mit Gasflaschen beladener Transporter herhalten. Die Männer warteten noch etwas ab, bis die Wachen an der Brücke übermüdet waren, dann gaben sie Gas, zwei eisernen Toren und einem Schlagbaum auf der Brücke entgegen. Am Ende der Strecke war das Auto völlig demoliert – aber es stand in West-Berlin. Aus Angst, dass die Gasflaschen auf der Ladefläche explodieren könnten, sprangen die drei Männer sofort aus dem Wagen und rannten los. Dass die Flaschen leer waren, erfuhren sie erst später. Nach wenigen Minuten Fußmarsch gelangten sie an eine Notrufsäule, bald darauf wurden sie von der West-Berliner Polizei eingesammelt. Was ihnen gelungen ist, blieb bis zuletzt der einzige erfolgreiche Fluchtversuch aus der DDR über die Glienicker Brücke.

Geschichte macht den Ort aus

Die Anekdote ist Teil eines Artikels, den Nele Diekmann für das Magazin einer Berliner Tourismusagentur geschrieben hat. Es ist ihr Job, Geschichten wie diese zu recherchieren und aufzubereiten: Gemeinsam mit ihrem Mann Marcel vom Lehn hat die Kulturwissenschaftlerin vor zwei Jahren die Tourismusagentur „HistoriCity“ gegründet, die ihren Sitz im Bornstedter Feld hat. Um die Identifikation der Einwohner mit ihrem Heimatort zu stärken oder den Tourismus anzukurbeln, können sich etwa Städte an Diekmann und vom Lehn wenden. Gemeinsam werden dann vor Ort die besten lokalen Geschichten zusammengetragen und überlegt, wie sie genutzt werden können. Für das Stadtmarketing kreierten Kommunen meist nur ein Logo oder einen Slogan, sagt Diekmann. „Meist bleibt es dabei recht oberflächlich. Was einen Ort für mich unverwechselbar macht, ist aber seine Geschichte.“ Oftmals hätten die Ortseinwohner selbst keine tieferen Kenntnisse über die lokale Geschichte. Diekmann und vom Lehn versuchten dann, in die Archive zu gehen und Informationen zu sammeln.

Gemeinsam den Sprung gewagt

Vom Lehn studierte Geschichte mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert und Nationalsozialismus, Diekmann Altorientalistik und Religionswissenschaft, beide promovierten an der Freien Universität Berlin. 2015 schloss Diekmann erfolgreich die Promotion ab und arbeitete danach für eineinhalb Jahre im Verlagswesen. „Das war aber nicht ganz mein Fall“, sagt sie heute.

Bald darauf beschloss das Paar deshalb, gemeinsam den Sprung zu wagen und beruflich zusammenzuarbeiten. Schnell war beiden klar, wie sie ihre Fähigkeiten idealerweise kombinieren könnten: „Marcel ist sehr akribisch, das kommt uns zum Beispiel bei der Archivrecherche zugute. Ich bin kreativer veranlagt und schreibe in der Regel die Texte und Konzepte“, so Diekmann.

Ihre Idee einer Tourismusagentur, die von der Beratung über Konzeption und Umsetzung der Ideen eine große Bandbreite an Angeboten für ihre Kunden zur Verfügung stellt, schien zudem neu zu sein: „Relativ verbreitet sind mittlerweile Geschichtsagenturen, die Unternehmensgeschichte aufleben lassen. Uns interessieren aber vor allem die kleinen Geschichten, die sich in einer Stadt zugetragen haben“, erzählt Diekmann. Dafür nutzt „HistoriCity“ verschiedene Kooperationspartner. „Mittlerweile haben wir uns ein gutes Netzwerk aus Storytellern, Audioproduzenten, Ausstellungsmachern und Menschen aus dem Tourismusmarketing erarbeitet“, erzählt Diekmann.

Schwieriger Anfang für das Start-up

Mit der Gründung der Agentur im Mai 2017 startete dann offiziell der Versuch, „auf einem Markt Fuß zu fassen, der bis dahin in dieser Form in Deutschland noch kaum existierte. Keine leichte Zeit“, sagt Diekmann. Ein erstes größeres Projekt im Herbst 2018 brachte den Durchbruch. Seitdem gewinnt die Agentur mehr Kunden und bekommt mitunter auch Folgeaufträge. Etwa die „Arbeitsgemeinschaft Städte mit historischen Stadtkernen des Landes Brandenburg“, in der auch Potsdam Mitglied ist: Die AG wirbt für die Altbausubstanz ihrer Kommunen und setzt deshalb regelmäßig die von Kulturland Brandenburg ausgerufenen Themenjahre in den beteiligten Städten um. „HistoriCity“ wirkt 2019 bereits zum dritten Mal an der Umsetzung mit. In diesem Jahr dreht sich alles um den 200. Geburtstag von Theodor Fontane, dafür hat die Agentur einen Audiorundgang durch Neuruppin, die Geburtsstadt des Dichters, konzipiert.

Beim Start eines neuen Projekts beziehen Diekmann und vom Lehn alle Beteiligten in der Stadt von Anfang an in die Planung ein. „Es macht keinen Sinn, wenn die Ideen von außen kommen und den Leuten übergestülpt werden.“ Deshalb setze man auf Workshops vor Ort, um dann etwa gemeinsam mit den zuständigen Mitarbeitern der Tourismusinformation, des Heimatmuseums oder des Stadtarchivs ein Konzept zu erarbeiten.

„HistoriCity“ ist nicht das einzige Projekt des Ehepaars. Wie berichtet haben die beiden ebenfalls vor zwei Jahren in Potsdam die Online-Plattform „Culture Maps“ gegründet, die Touristen zu geheimen Attraktionen führen soll, die nicht in jedem Reiseführer stehen. Zunächst konzentriert sich das Portal auf Brandenburg und Berlin, allerdings ist es das erklärte Ziel, langfristig einmal ganz Deutschland abzudecken.

Zwar leben Diekmann und vom Lehn in Berlin, für beide war aber von Anfang an klar, dass sie den Agentursitz nach Potsdam verlegen: „Für Gründer gibt es hier einfach tolle Fördermöglichkeiten, zum Beispiel Business-Coachings, von denen wir enorm profitiert haben.“

Clara Zink

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