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Neuanfang. Andrea Wicklein saß 15 Jahre für die SPD und Potsdam im Bundestag, holte dreimal das Direktmandat. Jetzt verabschiedet sie sich aus dem Politikbetrieb.

© Sebastian Gabsch

Potsdamer SPD-Politikern Andrea Wicklein hört auf: Im Reinen

Über das Arbeitsamt fand Andrea Wicklein in die Politik. 15 Jahre saß sie für Potsdam im Bundestag. Jetzt nimmt sie Abschied von Berlin.

15 Jahre Arbeit. Und dann landet der Großteil der Unterlagen einfach im Schredder. Gespräche in Arbeitsgruppen, Ausschüssen, bei Fraktionssitzungen oder im Plenum des Bundestags. Allein 445 parlamentarische Vorgänge – Reden, Anträge und Anfragen. Andrea Wicklein, die langjährige Potsdamer SPD-Bundestagsabgeordnete, hat ihr Bundestagsbüro in Berlin und das Wahlkreisbüro in Potsdam schon ausgeräumt. „Da ist ein bisschen Wehmut dabei“, sagt sie. Einige Fotos und Papiere nimmt die 59-Jährige mit nach Hause nach Bergholz-Rehbrücke: „Das sind schöne Erinnerungen, ein Spiegelbild meiner Arbeit“, sagt sie: „Ich hoffe, dass die Enkelkinder sich dafür irgendwann interessieren.“

Wenn am 24. September gewählt wird, dann steht Andrea Wicklein, die vier Legislaturperioden lang im Bundestag saß, dreimal das Direktmandat in Potsdam errang, nicht mehr auf dem Stimmzettel. Sie klingt gefasst und ruhig, wenn sie darüber spricht, ist mit sich und ihrer Entscheidung im Reinen: „Ich habe keinen Groll in mir“, sagt sie. Der Schritt, aus der Politik zu gehen, stand lange fest: Vor zwei Jahren kündigte sie ihren Rückzug an. Aus privaten Gründen.

Wicklein möchte Privates nachholen

Was danach kommt, kann sie auch jetzt noch nicht genau sagen: „Ich will die Dinge nachholen, die zu kurz gekommen sind – Familie, Freundeskreis.“ Da ist die 92-jährige Mutter, die beiden Enkelkinder in der Schweiz. „Ich will mich neu sortieren, Abstand kriegen und offen sein für neue Dinge.“ Mit ihrem vierköpfigen Team hat sie bereits Abschied gefeiert. Die letzte Bundestagssitzung fand in dieser Woche statt. Ein paar Termine in Berlin gibt es noch. Ihr Mandat endet offiziell erst nach der Wahl, wenn der neue Bundestag zusammentritt.

Dass sie überhaupt einmal im Bundestag sitzen würde, daran sei bei ihrem Eintritt in die Partei vor 25 Jahren nicht zu denken gewesen, erinnert sie sich. „Ich hatte zu tun, meine eigene Existenz zu sichern – alleinerziehend mit meinem Sohn.“ Wie für viele DDR-Bürger wurde der Mauerfall für Andrea Wicklein zum dramatischen Bruch. Die gelernte Verkäuferin hatte nach einem Ökonomiestudium zuletzt in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Nach dem Mauerfall verlor sie ihren Job, stand vor dem Nichts. Wagte den Neuanfang und baute einen Sportswear-Laden in Berlin auf, um wenig später erneut die Kündigung zu erhalten. Dann kam das Arbeitsamt. Eine Beschäftigungsmaßnahme. Und die Politik.

Vor 25 Jahren ist sie in die SPD eingetreten

„Ich bin durch das Arbeitsamt vermittelt ins Büro der SPD gekommen“, erzählt Wicklein. Als eine von zehn „Bürgerberatern“ wurde sie eingestellt, reiste durch Brandenburg, um Bürger zu beraten. „Zu Gesetzen, zu Alltagsfragen, zu allem.“ Nach dem Mauerfall sei der Bedarf an einem solchen Angebot riesengroß gewesen, waren viele verunsichert. 1992 trat sie in die Partei ein.

Die Erfahrungen aus der Nachwendezeit hätten ihr später oft geholfen, sagt Andrea Wicklein: „Das vergisst man nicht.“ Und sie haben dazu beigetragen, dass sie die Bodenhaftung nicht verloren hat. „So bin ich angetreten: Als Politikerin, die präsent ist, ansprechbar, die sich um die kleinen Probleme kümmert.“ Dass sie bei jeder Wahl mehr Erststimmen bekam, wertet sie als Bestätigung.

Für den Wahlkreis wirkte sie ohne großes Tamtam

Routiniert, sachbezogen, beharrlich und ohne großes Tamtam wirkte sie für den Wahlkreis. Der mit den sozialen Medien in die Politik eingezogene Kampf um Aufmerksamkeit scheint ihr fremd. Ja, im Wahlkampf sei sie auch auf Twitter aktiv gewesen, sagt sie: „Aber sonst ist mir das zu viel.“ Wicklein setzte stattdessen auf das persönliche Gespräch. Bei den rund 15 000 Besuchern aus ihrem Wahlkreis, die sie im Bundestag begleitete, genauso wie bei Bürgern, die in Mails oder Briefen mit Fragen oder Kritik an sie herantraten. Sie habe immer versucht, allen zu antworten, manchmal auch zum Telefonhörer gegriffen. „Wenn man die Sorgen der Bürger ernstnimmt und ihnen zuhört, kann man schon viel Frust abbauen“, sagt sie.

Ihre persönliche Bilanz nach 15 Jahren als Parlamentarierin fällt gut aus: Auf das Erfolgskonto zählt Andrea Wicklein unter anderem den Erhalt der Hochschulfinanzierung über den Bund, die Lösung für die Hochspannungsleitung im Potsdamer Ortsteil Marquardt, die Rücknahme der Pläne für die Verbreiterung des Sacrow-Paretzer Kanals, die Rettung der Arbeitsplätze am Bundessortenamt in Marquardt, zusätzliche Filmfördermittel oder die Zusage des Bundes, sich an den Kosten für die Bergung von Weltkriegsmunition zu beteiligen.

Mit einigen Initiativen scheiterte Wicklein

Auch Misserfolge musste sie einstecken: Die langsame Rentenangleichung Ost – erst 2025 soll es gleiche Renten in Ost und West geben – hält Wicklein, die lange Sprecherin der Arbeitsgruppe Ost der SPD-Bundestagsfraktion war, für ein Armutszeugnis und „nicht akzeptabel“. Auch die gescheiterte Initiative zur Mehrwertsteuer-Befreiung von Schulessen ärgert sie: „Da war ich sauer.“

Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Begegnung im Jahr 2005. Damals ging es um die Novellierung des Schornsteinfegergesetzes, an der schon jahrelang gearbeitet worden war. Die Bundestagsabgeordnete war zu Gast bei der Schornsteinfegerinnung und stand 150 Schornsteinfegern gegenüber – „alle in voller Montur“. Und alle verärgert über die Pläne der vermeintlich ahnungslosen Schreibtischtäter im Bundestag. Wicklein konnte mit der Begrüßung das Eis brechen: „So viel Glück wie heute Abend werde ich nie mehr haben.“ Sie verabredete mit dem Potsdamer Bereichsschornsteinfeger, dass sie ihn einen Tag begleitet – und er im Gegenzug sie im Bundestag besucht. „Wir sind zusammen hier über die Dächer gelaufen, ich habe in Schornsteine und Kamine geguckt und an Messungen teilgenommen“, erzählt Wicklein. Und die Gesetzesnovellierung? „Das haben wir auch geregelt gekriegt.“

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