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Potsdamer Politikerin: Wer war die Frauenrechtlerin Marie Juchacz?

Die Potsdamer Politikerin Marie Juchacz sprach heute vor 100 Jahren als erste Frau vor einem deutschen Parlament. Wer war die Frauenrechtlerin?

Potsdam - Schon die Anrede sorgte für „Heiterkeit“, wie das Protokoll vermerkt. „Meine Herren und Damen!“, sagte Marie Juchacz, und das muss ungewöhnlich geklungen haben an diesem 19. Februar 1919. Es war ein Mittwoch, an dem die neu gewählte Nationalversammlung im Deutschen Nationaltheater in Weimar zusammentrat und eine Premiere erlebte. „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat“, sagte Juchacz – und ihre Parteigenossen, die Sozialdemokraten, quittierten das mit „Sehr richtig!“-Rufen. Dank, erklärte die Politikerin dann selbstbewusst, seien die Frauen der Regierung dafür aber nicht schuldig: „Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“

Marie Juchacz gründete die Arbeiterwohlfahrt.
Marie Juchacz gründete die Arbeiterwohlfahrt.

© promo

Die SPD-Abgeordnete, deren Namen man heute in Potsdam vor allem wegen der nach ihr benannten Straße und Tram-Endhaltestelle kennt, war für den Wahlkreis Potsdam in die Nationalversammlung gewählt worden – als eine von 37 Frauen im 423 Mitglieder starken Parlament, wie im Online-Textarchiv des Deutschen Bundestages nachzulesen ist. Ob sie auch in Potsdam gewohnt hat, ist unklar – aus der fraglichen Zeit existieren im Stadtarchiv keine Melderegister, hieß es von der Stadt. Bis 1933 saß Juchacz im Reichstag. Bekannt ist die Frauenrechtlerin aber auch als Gründerin der Arbeiterwohlfahrt.

Ihren Unterhalt verdiente sie zunächst als Dienstmädchen

Aufgewachsen ist die am 15. März 1879 geborene Tochter eines Zimmermanns laut Bundestags-Archiv in Landsberg an der Warthe, dem heute polnischen Gorzów Wielkopolski. Ihren Unterhalt verdiente sie sich zunächst als Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin und Wärterin in der Provinz-Landes-Irrenanstalt. Mit erspartem Geld leistete sich Marie Juchacz einen Schneidereikurs und nahm schließlich eine Stelle in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz an, ihres späteren Ehemanns.

Aber die Ehe wurde wieder geschieden. Juchacz zog 1905 mit ihren zwei kleinen Kindern nach Berlin. Dort engagierte sie sich nach der Aufhebung des Verbots politischer Betätigung für Frauen in der SPD und übernahm die Redaktion der Zeitschrift „Die Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“. Schon während des Ersten Weltkrieges kümmerte sich Juchacz gemeinsam mit ihrer Schwester Elisabeth Röhl um das Wohl von Kriegswitwen und Waisen – sie richtete unter anderem Suppenküchen und Heimarbeitsplätze ein.

Sie kämpfte gegen die Bestrafung von Abtreibungen

Die Interessen von Frauen und Kindern standen auch bei Juchacz’ politischer Arbeit im Vordergrund. Erstaunlich aktuell wirken die von ihr im Parlament aufgegriffenen Themen: Sie kämpfte vehement gegen die Bestrafung von Abtreibungen, die sie zum Großteil für Verzweiflungstaten aus materieller Not hielt, sprach sich für eine Stärkung des Mutterschutzes aus und für die Gleichstellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, sie diskutierte Fragen des Sorgerechtes für uneheliche Kinder, des Kinderschutzes und der Aufgaben der damals noch neuen Jugendämter, wie in den im Internet zugänglichen Parlamentsprotokollen nachzulesen ist.

Juchacz erweist sich von Anfang an als geübte Rednerin: Bei ihrem ersten Auftritt am 19. Februar 1919 weckt sie nicht nur Zustimmung in ihren Reihen, sondern auch heftige Diskussionen im Parlament. Als sie den starken Einfluss der preußischen Junker in der Politik kritisiert, muss Constantin Fehrenbach, der Präsident der Nationalversammlung, zur Glocke greifen: „Die Unterhaltung wird hinter dem Präsidialtische mit einer derartigen Lebhaftigkeit geführt, dass es dem Präsidium unmöglich ist, die Rednerin zu verstehen“, vermerkt das Protokoll seine Worte: „Ich kann das nicht weiter dulden. Ich bitte, hier Ruhe zu halten!“

Juchacz gründete die Awo

Im Dezember 1919 gründete Marie Juchacz die Arbeiterwohlfahrt (Awo), die sich um soziale Hilfe für Kriegsversehrte, Arbeitslose und Waisen kümmern sollte. 1933 hatte die Awo laut Bundestags-Archiv deutschlandweit rund 135.000 ehrenamtliche Mitglieder in 1414 Beratungsstellen. Die Organisation löste sich nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler aber auf – um der drohenden Gleichschaltung zu entgehen.

Auch Juchacz emigrierte 1933 – laut Bundestags-Archiv über das Saarland nach Frankreich, Martinique und schließlich New York. Dort organisierte sie nach Kriegsende mit der von ihr gegründeten „Arbeiterwohlfahrt USA“ Hilfspakete für Deutschland. 1949 kehrte Marie Juchacz nach Deutschland zurück. Sie starb 1956 im Alter von 76 Jahren in Düsseldorf.

Hinweis: Dieser Text ist in ähnlicher Weise bereits vor fünf Jahren in den Potsdamer Neuesten Nachrichten erschienen.

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