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Landeshauptstadt: Potsdamer Nischen-Journalismus

Lektüre oft ohne Lustfaktor: Der spätere „Tagesspiegel“-Korrespondent Michael Mara wertete ab 1963 für den Westen alle DDR-Lokalzeitungen aus – die „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“ gehörten zu den besseren

Was viele nicht wissen: Die PNN, zu DDR-Zeiten „Brandenburgische Neueste Nachrichten“ (BNN), ist vor der Wende auch sehr aufmerksam im Westen gelesen worden. Aus beruflichen Gründen auch vom Autor dieser Zeilen, der auf der anderen Seite der Mauer vielleicht der einzige war, der die BNN über ein Vierteljahrhundert regelmäßig gelesen hat. Und der ihre Wandlung vom mickrigen Blättchen einer im Fahrwasser der SED schwimmenden „Blockpartei“ zu einer freien und unabhängigen Qualitäts-Zeitung nicht nur mit einigem Abstand aus dem Westen mit verfolgen, sondern nach dem Fall der Mauer als Journalist persönlich auch aktiv begleiten konnte.

Aber der Reihe nach: Erstmals in der Hand hatte ich das dünne Blättchen im Sommer 1964. Damals fing ich als junger Redakteur beim Informationsbüro West (IWE) in West-Berlin an. Das IWE wertete im Auftrag des gesamtdeutschen und später innerdeutschen Ministeriums die gesamte DDR-Presse aus und veröffentlichte die interessantesten News in einem täglich erscheinenden Pressedienst. Sie wurden von vielen westlichen Medien weiter verbreitet. Auf diese Weise sollte zur besseren Information über Entwicklungen und Stimmungen im Osten Deutschlands sowie über lokale Ereignisse beigetragen und das Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Deutschen im Osten gestärkt werden.

Allerdings war es nicht einfach, an die Lokalzeitungen heranzukommen. Die DDR lieferte zwar gegen harte Devisen „Neues Deutschland“, „Junge Welt“, „Tribüne“ und die anderen in der „Hauptstadt der DDR“ erscheinenden zentralen Zeitungen sowie auch die meisten Zeitschriften an einen darauf spezialisierten Zeitungsvertrieb in West-Berlin. Doch die Lokalzeitungen konnte man auf diesem offiziellen Weg nicht beziehen. Gründe für die Ausfuhrsperre, die übrigens bis zur Wende bestehen blieb, wurden offiziell nie genannt. Doch liegt die Vermutung nahe: Die SED wollte verhindern, dass Informationen aus den Lokalblättern im Westen gesammelt werden konnten.

Allerdings verhinderte sie auch nicht, dass die Militärmissionen der westlichen Alliierten in Potsdam die Lokalzeitungen beziehen konnten, die davon auch Gebrach machten. Denn auch die Amerikaner, Franzosen und Engländer hatten ein Interesse daran, sich ein möglichst genaues Bild von der Lage im Osten Deutschlands zu machen. Über den nur für sie zugelassenen Grenzübergang an der Glienicker Brücke gelangten die Lokalzeitungen dann über viele Jahre zum Informationsbüro West.

Meine Aufgabe als Redakteur beim IWE bestand darin, die Provinzpresse auf wenn schon nichts Sensationelles so doch wenigstens auf Meldenswertes zu durchforsten und journalistisch zu verarbeiten, ein recht mühseliges Unterfangen. Immerhin erschienen rund 50 sogenannte Bezirkszeitungen der SED sowie der Blockparteien NDPD, LDPD und CDU, hinzu kamen noch rund 200 Kreisausgaben der SED-Blätter, alles in allem also eine gehörige Papierflut, die täglich bewältigt werden musste. Angesichts der von der SED verlangten Hofberichterstattung und der meist langweilig und kritiklos geschriebenen Berichte über die sozialistischen Erfolge vor Ort eine ermüdende Lektüre ohne jeden Lustfaktor.

Dennoch fanden sich auf den Lokalseiten auch immer wieder aufschlussreiche Hinweise auf örtliche Vorgänge und Entwicklungen, auf Versorgungsengpässe, Umweltprobleme, Bauvorhaben, Straftaten und ähnliches, die zentral nicht vermeldet wurden, aber auch auf Stimmungen in der Bevölkerung. Auch wenn man manches nur zwischen den Zeilen herauslesen konnte und kritische Leserbriefe entschärft wurden, hatten die Lokalblätter wohl auch eine Ventilfunktion, was ebenfalls erklärt, warum sie auf Geheiß der SED offiziell nicht in den Westen ausgeführt werden durften – trotz knapper Devisen. Bemerkenswert ist noch ein anderer Aspekt: Trotz ideologischer Gleichschaltung – quasi die gesamte zentrale politische Berichterstattung erfolgte auch in den Bezirkszeitungen der sogenannten Blockparteien durch die streng kontrollierte staatliche Nachrichtenagentur ADN – existierten durchaus qualitative Unterschiede zwischen den einzelnen Lokalblättern. Diese hatten zum einen wohl mit dem persönlichen Anspruch der Journalisten und ihrem Mut zu tun, minimale Spielräume zu nutzen, aber auch mit der Rolle der jeweiligen SED-Provinzfürsten und dem vom lokalen Überwachungsapparat ausgehenden Druck auf die Redaktionen. Es ist eine Tatsache: Dort wo die schlimmsten Hardliner unter den SED-Provinzfürsten das Sagen hatten, erschienen die am wenigsten lesbaren Lokalblätter.

Das führte dazu, dass wir die Zeitungen nach einer Rangliste abarbeiteten: Ich sortierte die Zeitungen morgens auf meinem Schreibtisch so, dass die erfahrungsgemäß langweiligsten und unergiebigsten ganz unten lagen: vor allem die SED-Bezirkszeitungen „Neuer Tag“ (Frankfurt/Oder), „Volkswacht“ (Gera) und „Freies Wort“ (Suhl), die ich zuallerletzt lesen wollte. Ganz oben lagen die SED-Blätter „Sächsische Zeitung“ (Dresden) und „Leipziger Volkszeitung“ (Leipzig), die vor allem in den letzten Jahren vor der Wende kritischer als andere zum Beispiel über Umweltprobleme berichteten und zu den vom IWE meist zitierten gehörten.

Und die „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“? Auch sie standen auf der Prioritätenliste im oberen Teil: Das Blatt war zwar wie auch alle übrigen Bezirkszeitungen der Blockparteien mit nur wenigen Seiten Umfang ziemlich mickrig, weil die SED das Papier für die ihr nicht gehörenden Zeitungen streng kontingentierte. Aber dafür fanden sich im lokalen Teil zum Beispiel auch für den westlichen Leser informative Berichte über die Denkmalpflege in Sanssouci und in der barocken Innenstadt, aus denen wir zitierten. Die BNN wie auch andere nicht der SED gehörende Zeitungen pflegten eine Art Nischen-Journalismus: Sie widmeten sich sehr speziellen lokalen und politisch unverfänglichen Themen, was den von SED-Propaganda überfütterten Lesern entgegen kam. Das unterschied die BNN zum Beispiel auch von der ebenfalls in Potsdam erscheinenden SED-Zeitung „Märkische Volksstimme“.

Einmal konnte ich es mir allerdings nicht verkneifen, einen klarstellenden Leserbrief an den Chefredakteur der BNN zu schreiben. Der Grund: Die Zeitung hatte die in der DDR eingeführte kostenlose Schutzimpfung gegen Grippe als sozialistische Errungenschaft dargestellt, denn im kapitalistischen Deutschland müssten die Menschen dafür zahlen. Ich schrieb dem Chefredakteur unter meiner privaten Adresse, dass der Autor schlecht informiert sei und meine Krankenkasse seit Jahren die Kosten für die Schutzimpfung übernehme. Ich bat um Richtigstellung – sie erschien nicht, auch eine Antwort habe ich nicht erhalten. Wahrscheinlich hat die Stasi den Brief abgefangen.

Überhaupt verfolgte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die sich auf die Bezirkspresse stützende Berichterstattung des IWE über lokale Entwicklungen in der DDR über Jahrzehnte mit Argusaugen. Unter meinen über 20-bändigen Stasi-Akten findet sich ein ganzer Ordner, in dem die von westlichen Medien abgedruckten IWE-Nachrichten, aber auch viele meiner im „Tagesspiegel“ veröffentlichten Berichte und Analysen zu DDR-Themen fein säuberlich abgelegt wurden. Und es gibt zahlreiche von der Stasi veranlasste „Überprüfungen zu Presseveröffentlichungen in Berlin-West“, mit denen festgestellt werden sollte, ob die dargestellten Vorgänge tatsächlich aus der jeweils angegebenen Zeitung stammten oder ob es „andere Quellen“ gab.

Typisch ist eine Überprüfungsmeldung einer Bezirksverwaltung für Staatssicherheit an die Hauptabteilung VII des Ministeriums für Staatssicherheit vom 17. August 1981: Die vom „Tagesspiegel“ am 12. Juli 1981 veröffentliche Nachricht über Rechtsverstöße in Verkaufsstellen des Konsums und der HO (Handelsorganisation der DDR, d. Red.) entspreche „sachlich den Tatsachen“ und sei aus der Lokalzeitung übernommen worden. Es gebe keine Hinweise „auf andere Informationsquellen“. Vereinzelt mussten verantwortliche Redakteure im Rahmen der Quellen-Überprüfung auch „Erklärungen“ zu ihren Artikeln abgeben. Öfter verlangte auch das Zentralkomitee (ZK) der SED in Berlin Aufklärung, wie bestimmte Informationen in Westmedien gelangen konnten.

Diese ziemlich aufwändige Überprüfungspraxis spricht übrigens dafür, dass es weder beim Ministerium für Staatssicherheit noch beim ZK der SED eine zentrale Stelle gab, die die Bezirkspresse systematisch durchforstete und archivierte. Umso aufmerksamer verfolgte man die Veröffentlichungen in den West-Medien. Erst über diesen Umweg wurden die eigenen Veröffentlichungen Überprüfungen unterzogen. Letztlich wird daran deutlich, dass die Lokalberichterstattung für SED und Stasi von besonderer Sensibilität war, was auch die Grenzen der Provinz-Redaktionen deutlich macht.

Etwas verwunderlich ist, warum die BNN wie auch die meisten anderen lokalen Blätter der „Blockparteien“ erst relativ spät auf den Überdruck in der DDR im Jahr der friedlichen Revolution mit eigener kritischer und offensiver Berichterstattung reagierten. Zunächst schienen sie, jedenfalls für den westlichen Beobachter, in einer merkwürdigen Abwartehaltung zu verharren, was sich im Herbst 1989 erst allmählich änderte. Hier wirkte sich vermutlich auch die jahrzehntelang antrainierte Vorsicht aus.

Dann fiel die Mauer und alles ging sehr schnell. Der „Tagesspiegel“ schickte mich Anfang 1990 als ersten ständigen Korrespondenten aus dem Westen nach Potsdam, wo ich ein kleines provisorisches Büro hinter der evangelischen Buchhandlung im Holländischen Viertel einrichtete. Telefon gab es nicht, ich schleppte am Tragegürtel ein mächtiges Funktelefon mit mir herum, das aber in Potsdam kaum Empfang hatte. Um meine Berichte an die Redaktion in Berlin durchgeben zu können, musste ich jedes Mal zur Glienicker Brücke fahren.

Die DDR und der alte Apparat existierten noch, ich war plötzlich mittendrin im Umbruch und für manche Kollegen der BNN wie auch der in Potsdam erscheinenden SED-Zeitung, die ich auf den immer seltener werdenden Pressekonferenzen der alten Stadt- und Bezirksverwaltung traf, wohl zunächst auch so etwas wie ein Exot. Ich erlebte nun live mit, wie die mir vom Lesen wohlbekannte BNN die alten Fesseln abstreifte und sich „freischwamm“, zunächst ein durchaus widersprüchlicher Prozess.

Nach den ersten freien Kommunalwahlen im Mai 1990 und der Abwahl des SED-Oberbürgermeisters berichtete ich im „Tagesspiegel“ über die geplante Großinvestition eines kanadischen Unternehmens in der herunter gewirtschafteten Stadt. Die Information hatte ich von einem neugewählten Stadtrat bekommen. Prompt erschien am nächsten Tag in der BNN der Kommentar eines zu ihrem Urgestein zählenden Redakteurs, in dem dieser sich darüber mokierte, dass die Information aus dem Rathaus zuerst „an eine Westzeitung“ gegangen sei.

Nun ja, das Ost-West-Problem löste sich dann sehr schnell, denn bald darauf erwarb der Tagesspiegel die BNN, die nun Potsdamer Neueste Nachrichten hieß, und ich wurde als gemeinsamer Landeskorrespondent selbst ein Teil dieser Zeitung. Und ich konnte erleben, wie die PNN-Redakteure sehr schnell lernten, sich Informationen exklusiv zu beschaffen und auf dem neuen Zeitungsmarkt zu behaupten.

Michael Mara

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