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Auf der Breiten Straße. Rund 10.000 Menschen demonstrierten am 4. November 1989 in Potsdam.

© Bernd Blumrich

Potsdamer Demokratiedenkmal wird eingeweiht: Da ist sie – die Revolution

Am 4. November 1989 fand wenige Tage vor dem Mauerfall die größte Demonstration in der Geschichte Potsdams statt. Daran erinnert das Denkmal auf dem Luisenplatz. Die PNN sprachen mit damaligen Teilnehmern.

Von Carsten Holm

Potsdam - Der 4. November 1989 war ein kühler Samstag. Nach und nach füllte sich kurz nach Mittag der Platz der Nationen, der heutige Luisenplatz, mit Menschen, die ihrem Unmut über den Realsozialismus Luft machen wollten. Tausende kamen zur ersten genehmigten Kundgebung der Bürgerbewegung, auf ihren Spruchbändern forderten sie aus Sicht der Herrschenden Ungeheuerliches: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Reisefreiheit.

Und dann war da dieser Balkon im zweiten Stockwerk des Eckhauses an der Zimmerstraße, hoch über dem Platz. Die Pfarrersfamilie Stappenbeck, die dort wohnte, hatte ihn zur Verfügung gestellt. Wer hinabsah, blickte auf Menschenmassen, auf dem Balkon stand mit anderen Olaf Grabner. Der heute 55 Jahre alte gelernte Gärtner, der seit Jahren den Nepal-Himalaya-Park in Wiesent bei Regensburg leitet, erinnert sich noch gut „an dieses überwältigende Gefühl, dort zu stehen und frei zu sagen, was man will“. 

Demonstration als "Vorbereitung zur Öffnung der Grenzen"

Er habe das Gefühl gehabt, „kurz vor der Freiheit“ zu sein, wenn auch niemand zuvor habe wissen können, „ob man nicht für ein paar Jahre im Knast landet“. Mit auf dem Balkon: Pfarrer Hans-Joachim Schalinski. Der heute 76-Jährige, einst Seelsorger am Stern und im Schlaatz, hält die Groß-Demonstration im Rückblick für „die Vorbereitung zur Öffnung der Grenzen“. Unerschrocken hatte er den Betrug bei der Kommunalwahl im Mai immer wieder angeprangert, „was sich dann an Forderungen nach Menschenrechten entwickelte, war nicht mehr zu ersticken“, sagt er. Schalinski kümmerte sich nach der Wende um sogenannte Wende-Verlierer: DDR-Bürger etwa, die ihre Arbeit verloren hatten.

Unten, inmitten der Massen, hielten die Fotografen Bernd Blumrich, heute 71, und Klaus Fahlbusch, 60, das Geschehen fest. „Es war allen klar, dass wir Geschichte miterleben“, sagt Blumrich. Fahlbusch erinnert sich an ein paar Polizisten, „die ganz bescheiden am Rand standen“.

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Jetzt wird ein Denkmal an das Engagement der Bürger an diesem Tag vor 32 Jahren und in der Wendezeit erinnern, es soll am Donnerstag um 17 Uhr auf dem Luisenplatz eingeweiht werden. Stolz stand der Künstler Mikos Meininger am gestrigen Dienstag dort in dem Zelt, das sein Denkmal noch bedeckte. Tag für Tag verbrachte zuletzt auf der gusseisernen Platte, säuberte die Buchstaben, die die Babelsberger Firma Print1 dort eingefräst hatte und freute sich, als die ersten am Abend durch phosphoreszierendes Kunstharz zu leuchten begannen. 

In der Dunkelheit scheinen die Zahlen zu verschwinden 

Es ist ein beinahe genialischer Einfall: Tagsüber fällt in großen Ziffern das Datum 4.11.1989 ins Auge, mit der Dunkelheit scheinen die Zahlen zu verschwinden und überlassen ihren Auftritt den Losungen, die vor 32 Jahren auf den Spruchbändern und Plakaten der Groß-Demonstration standen: „Visa-frei bis Hawaii“, „SED-raus aus den Betrieben“, „Freie Wahlen – wahre Zahlen“.

Das Denkmal auf dem Luisenplatz hat der Künstler Mikos Meininger entworfen.
Das Denkmal auf dem Luisenplatz hat der Künstler Mikos Meininger entworfen.

© Ottmar Winter

Die PNN sprachen in den vergangenen Tagen mit einigen Teilnehmern der größten Demonstration, die es je in Potsdam gab. Volker Wiedersberg etwa erzählte, er habe „eher in den hinteren als in den vorderen Reihen gestanden“, was einen Grund hatte. Er war erst drei Wochen zuvor aus dem Stasi-Untersuchungsgefängnis in der Lindenstraße entlassen worden, wo er eine Woche lang als „Rädelsführer einer Zusammenrottung“ eingesessen hatte. 

Volker Wiedersberg.
Volker Wiedersberg.

© Promo

Er sympathisierte mit der Bürgerrechtsbewegung, obwohl er sich auch auf Distanz hielt: „Mich befremdete, dass sich auf einmal so viele versammelten, die vorher noch ruhig in ihren Gärten gesessen hatten. Mich befremdete auch, dass das alles so schnell ging: Von ,Wir sind das Volk’ zu ,Wir sind ein Volk’, und dann rückte plötzlich die D-Mark in den Vordergrund.“ Der heute 52-Jährige studierte Jura, arbeitete ein paar Jahre als Rechtsanwalt in Potsdam und ist heute Dezernatsleiter im Landesamt für Soziales und Versorgung. Politisch ist er aktiv geblieben – als Mitglied der Grünen und Vorsitzender der Gemeindevertretung von Michendorf.

Die Ungerechtigkeiten im DDR-System beseitigen 

Annette Flade, inzwischen 71 Jahre alt, und ihr Mann Stephan, 70, leben nach Jahren als Seelsorger in Potsdam und Indonesien heute wieder in ihrer Heimatstadt Wittenberge im Landkreis Prignitz. Die Pastorin erzählte den PNN, dass sie auf dem Balkon „im wesentlichen Paragraphen der DDR-Verfassung vorgetragen“ habe, in denen das Recht auf Versammlungs- und Redefreiheit verbrieft war, „das wurde ja nur niemals praktiziert“. 

Stephan Flade erkennt an, dass die Polizei „Blutvergießen vermeiden wollte“. Die Vorgesetzten hätten die Polizisten ohne Munition in den Einsatz geschickt. Den Flades sei es „überhaupt nicht um die Wiedervereinigung gegangen, wir wollten die Ungerechtigkeiten im DDR-System beseitigt wissen“. Nun machen beide auf die Ungerechtigkeiten im System der Bundesrepublik aufmerksam, etwa „auf die immer weiter auseinander gehende Schere zwischen Arm und Reich“.

Reinhard Meinel, heute 63 Jahre alt und Professor für theoretische Physik in Jena, war nach der Groß-Demonstration überrascht, „dass sich alles so schnell überschlagen würde“. Das Engagement habe sich gelohnt: „Die DDR war ein System, das man zu Recht Diktatur nannte.“

Reinhard Meinel.
Reinhard Meinel.

© Jana Haase

Petra Walter-Streitz, heute 59, wird nie vergessen, dass sie zu DDR-Zeiten immer drei unerfüllte Wünsche hatte: Ebbe und Flut erleben, „das gab es an der Ostsee und am Schwarzen Meer ja nicht“. Die Dolomiten zu sehen und die Westküste der USA kennenzulernen. Sie nahm mit ihrem Mann an der Demonstration teil, der den Kinderwagen mit ihrem Sohn schob. „Angst hatten wir am 4. November nicht“, sagte sie, „wir wären ja sonst nicht mit unserem Jungen dabei gewesen“. Streitz fuhr noch im November 1989 ins schleswig-holsteinische Dithmarschen, um barfuß durchs Watt zu laufen. Dann folgten Reisen in die Dolomiten und die USA – nach der Eröffnung ihres Trekkingladens.

Die Bürgerrechtlerin Ute Bankwitz ist zufrieden mit den Folgen der friedlichen Revolution: „Ich genieße mein Leben und die Freiheit, für die wir damals gekämpft haben.“ Die größte Weitsicht aber hatte offenbar die heute 80 Jahre alte Potsdamer Autorin Sigrid Grabner. Sie offenbarte den PNN 2014, was sie am Abend jenes 4. November mit weisem Blick in die Zukunft in ihr Tagebuch geschrieben hatte: „Da ist sie – die Revolution, umfassend im Anspruch, visionär.“

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