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Marian Dörk (r.) hat regelmäßig Kontakt mit seinem Doktoranden Tobias Kauer, der derzeit in Edinburgh promoviert.

© Andreas Klaer

Potsdamer Corona-Projekt: Tagebuch mit Faktenlage

Ein Team der Fachhochschule lädt Bürger aus aller Welt dazu ein, auf einer Plattform Erfahrungen mit der Pandemie auszutauschen. Was die Forschenden antreibt.

Von Carsten Holm

Potsdam - Es herrscht eine lockere Atmosphäre im Hauptgebäude der Fachhochschule Potsdam, in dem das Urban Complexity Lab residiert. Marian Dörk, 39 Jahre alt und dort seit acht Jahren Forschungsprofessor, sitzt an seinem Schreibtisch und will mit dem 33 Jahre alten Doktoranden Tobias Kauer erklären, an welchem Projekt gerade gearbeitet wird. Der ist per Videokonferenz aus Berlin zugeschaltet, und Kauer erzählt, wie er eine Idee entwickelt, die Grundlage seiner Doktorarbeit werden soll. Professor und Doktorand duzen sich, so wie es Dörk auch mit den Studierenden hält. 

„Wir haben einen Zeitstrahl entworfen, auf dem jeder Bürger, ob in Potsdam oder in irgendeinem Staat der Welt, seine Erfahrungen in der Zeit der Pandemie digital eingeben kann“, sagt Kauer. Er ist Absolvent des Potsdamer Master-Studiengangs Urbane Zukunft und promoviert jetzt an der Universität Edinburgh in Schottland. Seine Doktorväter sind die Professoren Dörk und in Schottland der Deutsche Benjamin Bach.

Großer Teamgeist

Auffallend ist der Teamgeist in der Forschergruppe, Augenhöhe ist jenseits der Hierarchien Normalität. „Es hat sich im Miteinander in den vergangenen zehn Jahren an den Unis viel getan“, sagt Dörk. Er wurde in Calgary in der westkanadischen Provinz Alberta promoviert, zu seinen Projekten zählen unter anderen die Visualisierung von Theodor Fontanes Handbibliothek, der „VIKUS Viewer“, der tausende kulturelle Artefakte auf einer dynamischen Leinwand anordnet und die Erforschung großer Sammlungen unterstützt, sowie die Visualisierung der „Topographie der Gewalt“, der gewaltsamen Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen und Unternehmen zwischen 1930 und 1938. 

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Ein Ergebnis der Potsdamer Forschung: eine animierte Wandkarte und eine interaktive Medienstation, die das Jüdische Museum Berlin zeigt. „Wir schätzen die Zusammenarbeit zwischen Historikern, Literatur- und Kulturwissenschaftlern“, sagt Dörk.

Kauer tauscht sich über seine Arbeit mit den Kolleg:innen in Edinburgh und Potsdam aus, insgesamt 25 Akademiker:innen sind beteiligt. Die Plattform, die er entwickelt hat, findet man unter uclab.fh-potsdam.de/coronamoments. Wer sie anklickt, kommt zu den „Corona Moments“, es erscheint ein schwarzer, kurviger Zeitstrahl, der am rechten Rand steil nach oben schießt. 

Die Visualisierung der sogenannten Omikron-Wand.
Die Visualisierung der sogenannten Omikron-Wand.

© Andreas Klaer

Das ist die Visualisierung der sogenannten Omikron-Wand, die Fernsehzuschauern aus Nachrichtensendungen geläufig ist. Entlang dieses Strahls kleben Dutzende orangefarbener Punkte. Klickt man sie an, poppen Kästchen auf, in denen Schilderungen von Bürger:innen über ihre Erfahrungen zu lesen sind – auf Englisch. „Wir hatten nicht die Möglichkeit, das mehrsprachig zu entwickeln“, sagt Kauer.

Die Verfasser bleiben anonym

Die Verfasser bleiben, anders als teils in den sozialen Medien, anonym, es gibt, so Dörk, anders als bei Äußerungen auf Facebook oder Twitter, „keine Möglichkeit der Selbsterhöhung, es gibt keine Quantifizierung von Erfolg wie Sternchen oder Votings“. Aber die Seite lädt diejenigen, die des Englischen einigermaßen mächtig sind, zum Stöbern ein. So hat ein Deutscher am 13. Mai 2020 geschrieben, er sei auf einer Beerdigung gewesen, auf der die Besucher „nicht wussten, ob es okay ist, sich zu umarmen“. 

Als er nach Hause gekommen sei, habe er in den Nachrichten erfahren, „dass alle Schulen und Kindergärten geschlossen“ werden würden. Am 25. September 2020 legte ein Deutscher offen, sich „extrem einsam und verloren“ zu fühlen.

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Jemand aus Griechenland hielt am 21. April 2021 fest, er sitze „jeden Morgen auf dem Dach seines Wohnblocks“ und trinke seinen Kaffee allein. Die Stille empfinde er als „Schlag in den Magen“. Ein Brite oder eine Britin erzählte am 31. März 2020, einen Job im Ausland begonnen zu haben und „so naiv“ gewesen zu sein, dass die Pandemie schnell vorübergehen werde. Manche der inzwischen rund 60 Einträge haben, so Kauer, einen „Tagebuch- oder Beichtstuhlcharakter“.

Überblick über die staatlichen Maßnahmen gegen Corona in aller Welt 

Interessant ist die Webseite auch, weil sie mit einem Klick auf das Kästchen „change view“ einen Überblick über die staatlichen Maßnahmen gegen Corona in aller Welt ermöglicht, der täglich automatisch aktualisiert wird. Da steht, dass Japan am 27. November 2020 Richtlinien zur Lüftung von Gebäuden im Winter erließ, Nepal am 2. Mai 2021 entschied, alle internationalen Flüge auszusetzen und Kamerun am 29. Mai seine Grenzen wegen Corona schloss.

„Es hat wohl noch nie so eine gute Datenlage wie zu Coronazeiten gegeben“, sagt Kauer. „Was wir machen, ist ein Experiment: wir wollen die Daten humanisieren, durch die persönlichen Schilderungen die menschliche Perspektive deutlich machen“. Dörk ergänzt: „Wir wollen eine Bühne ohne jedes kommerzielle Interesse schaffen, auf der man sich ohne die in den sozialen Medien übliche Polarisierung austauschen kann.“ 

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