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Viktoria mit ihrem kleinen Sohn Gordi, der unter einer Wärmelampe liegt.

© Marco Zschieck

Potsdam und die Ukraine: Die Babys von Lwiw

Seit vier Monaten führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Potsdam hat viermal Hilfsgüter geschickt. Ein Besuch dort, wo diese Hilfe ankommt: in der Geburtsklinik von Lwiw.

Lwiw (Ukraine) - Der Brustkorb hebt und senkt sich heftig. Und der Körper bewegt sich mit. Dabei schläft der kleine Gordi eigentlich, sagt seine Mutter Viktoria, während sie über seinen Kopf streichelt. An seiner rechten Hand ist der Pulsmesser angeschlossen, durch einen Schlauch bekommt der Junge zusätzlichen Sauerstoff. Eine Heizlampe über seinem Bettchen hält ihn warm. Gordi ist erst ein paar Wochen alt. In der 25. Schwangerschaftswoche hat ihn Viktoria in der Geburtsklinik in Lwiw im Westen der Ukraine zur Welt gebracht. Bei der Geburt wog er nur 700 Gramm. Ringsum piept es. Denn außer Gordis stehen noch sechs andere Bettchen und zwei Inkubatoren im Raum.  

Die Geburtsklinik in Lwiw wird seit Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine vom Potsdamer Klinikum Ernst von Bergmann unterstützt. Bisher sind vier Lieferungen mit humanitärer Hilfe aus Potsdam in die Ukraine gegangen. Rund 70 Tonnen an Arzneimitteln, medizinischem Material und Technik wie Röntgen- oder Ultraschallgeräten im Wert von rund 500 000 Euro wurden geliefert. Auch die Klinik in Lwiw hat davon profitiert. „Vor allem die Medikamente haben uns geholfen“, sagt Klinikdirektorin Maria Malachinska. Dafür sei man sehr dankbar. Auch die Einladung an Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) stehe weiterhin. Er sei sehr willkommen. 

Klinikdirektorin Maria Malachinska.
Klinikdirektorin Maria Malachinska.

© Marco Zschieck

Die 44-Jährige ist seit gut zwei Jahren Direktorin dieser Geburtsklinik. Hilfe, sagt sie, könne man gut gebrauchen. Denn das Krankenhaus ist zwar die zentrale Geburtsklinik für die gesamte Region Lwiw mit rund 2,5 Millionen Einwohnern und nimmt auch Patientinnen aus benachbarten Regionen auf, doch seit Beginn der großangelegten russischen Invasion gibt es für die Ärzt:innen und Pfleger:innen noch mehr zu tun. Derzeit gebe es hier die zweitmeisten Geburten nach der größten Geburtsklinik der Ukraine in Kiew, sagt Malachinska.

Lwiw ist das Drehkreuz der Fluchtbewegung 

Der Grund ist, dass aus den umkämpften und bedrohten Gebieten der Ukraine viele Menschen in den vermeintlich sichereren Westen des Landes geflohen sind. Und Lwiw ist die größte Stadt weit und breit. Die Stadt, deren historisches Zentrum zum Weltkulturerbe zählt, ist Drehkreuz der Fluchtbewegung – nicht nur ins Ausland. Außerdem hat sich nach Angaben der Direktorin auch die Art der Belastung der Klinik verändert. Immer mehr Kinder kommen vor dem errechneten Termin zur Welt und brauchen eine intensivere Behandlung, erklärt Malachinska. Das liege an dem Stress, dem die werdenden Mütter durch den Krieg ausgesetzt sind. Die Anstrengungen der Flucht seien das eine. Dazu komme die Angst um das ungeborene Kind, sich selbst und die Angehörigen. 

Unter normalen Bedingungen zähle die Klinik pro Jahr rund 6000 Geburten, sagt Malachinska. Darunter seien rund 1000 Entbindungen vor dem errechneten Termin. Manche der Neugeborenen wiegen nur 500 Gramm. „Sie brauchen einen Inkubator.“ Ihr Körper sei noch nicht reif für die Welt. Die Inkubatoren sorgen für konstante Temperatur und schützen vor Infektionen. Außerdem kann so der Kreislauf überwacht werden.  

Doch diese Form der Intensivmedizin braucht Strom. Und der kann im Krieg aus verschiedenen Gründen ausfallen. Für die Inkubatoren braucht das Krankenhaus also auch Notstromaggregate, die einspringen können. Seit Ende Februar haben laut Malachinska schon 1000 Frauen in der Klinik entbunden, die aus Regionen weiter östlich geflohen sind. 400 von ihnen hatten Frühgeburten. 

Marias Baby wog bei der Geburt nur 1130 Gramm

Einem der Inkubatoren im selben Zimmer will eine Mutter nicht von der Seite weichen. Unter einem durchsichtigen Plastikdach liegt ihr Baby. Maria kommt aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Das Stadtzentrum dort ist nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Vom ersten Tag der Invasion an gab es in der Umgebung Kämpfe, wochenlang wurde die Stadt mit Artillerie und Raketen beschossen. Maria floh im März in den Westen des Landes. 

Doch bei der Schwangerschaft kam es zu Komplikationen. Ihr Kind kam in der 30. Schwangerschaftswoche zur Welt. Bei der Geburt wog der Junge 1130 Gramm, so steht es auf einem kleinen Schild, das auf dem Inkubator klebt. Auch dieser Junge heißt Gordi. Der Name sei eher typisch für den Westen der Ukraine, aber ihr habe gefallen, dass er etwas mit dem Geburtsort des Kindes zu tun hat, sagt Maria. 

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Erst vor gut zwei Jahren ist das Krankenhaus mit seinen insgesamt bis zu 600 Betten grundlegend saniert worden. Das sieht man ihm an. Die aprikosenfarbig getünchte Fassade leuchtet in der Junisonne. Die Flure sind hell und freundlich gestaltet. Im Treppenhaus stehen auf jedem Absatz Topfpflanzen und an den Wänden hängen Aquarelle. Auf der Etage gibt es eine Sitzecke mit bequemen Sofas für die ersten Besucher der Neugeborenen und draußen eine Grünanlage für den ersten Spaziergang. Es war offenbar das Ziel, eine angenehme Umgebung zu gestalten.  

Bei den ersten Luftalarmen musste improvisiert werden

Die Klinik ist gefragt. Nadeshda ist mit ihrem Mann aus Kiew geflohen, als in der Umgebung gekämpft wurde. Später sei sie nach Warschau weitergereist, erzählt sie mit der zwei Tage alten, schlafenden Yelizaveta auf dem Arm. Doch für die Geburt ihrer Tochter sei sie nach Lwiw gekommen. „Ich habe mich hier besser gefühlt als in Polen.“ 

Nadeshda mit ihrer wenige Tage alten Tochter Yelizaveta.
Nadeshda mit ihrer wenige Tage alten Tochter Yelizaveta.

© Marco Zschieck

Bei der Sanierung hat man allerdings nicht an einen großen Krieg gedacht, schon gar nicht an einen Luftschutzkeller. Bei den ersten Luftalarmen musste improvisiert werden. Seitdem hat sich eine gewisse Routine eingestellt. Schließlich gab es bis 20. Juni für die Oblast Lwiw schon 111 Mal Luftalarm mit einer Gesamtdauer von fünf Tagen und zwei Stunden. Das ist zwar deutlich weniger als in den Gebieten weiter östlich, aber sie stellen dennoch nicht nur eine theoretische Gefahr dar. Auch in Lwiw sind schon russische Raketen eingeschlagen. Im März wurde ein Öldepot getroffen und im April Lagerhäuser und ein Reifenwechselservice. Es gab Tote und Verletzte. 

Der Weg, der zumindest etwas Sicherheit verspricht, führt über eine schmale Treppe in den Heizungskeller unter einem der Gebäude. Die Tür ist höchstens 1,60 Meter hoch und die Decke des Kellers auch. Man muss sich ducken, um sich nicht zu stoßen. Dazu verlaufen unter der Decke noch allerhand Leitungen. Der Boden ist nicht befestigt, sondern aus Sand und Bauschutt. Es gibt Wasservorräte und eine Toilette. In dem spärlich beleuchteten Keller sind rund 100 provisorische Liegen mit Decken und Kissen vorbereitet, dazu ein paar Wickeltische und mehrere Reihen mit grob gezimmerten Sitzbänken. Das reicht nicht aus, um alle Patientinnen unterzubringen. 

Rund 100 provisorische Liegen wurden im Keller aufgestellt.
Rund 100 provisorische Liegen wurden im Keller aufgestellt.

© Marco Zschieck

Der Ausbau eines zweiten Kellers läuft

Deshalb wird derzeit unter dem Nachbargebäude ein zweiter Keller ausgebaut. Ein Bagger hat ein Loch neben dem Fundament ausgehoben und eine Lücke in die Mauer gerissen. Bis der Keller fertig ist, soll noch ein Raum im Erdgeschoss eines Nachbargebäudes provisorischen Schutz bieten: Die wenigen Fenster sind meterhoch mit Sandsäcken zugestapelt um Druck und Splitter abzuhalten. Auch die Frühchen müssen in diesen Raum, denn die hygienischen Bedingungen im Heizungskeller wären nicht gut genug. 

Sandsäcke wurden meterhoch aufgetürmt, um den Raum zu schützen.
Sandsäcke wurden meterhoch aufgetürmt, um den Raum zu schützen.

© Marco Zschieck

Eigentlich hatte man in diesem Jahr andere Anschaffungen geplant, erzählt Direktorin Malachinska. Die Klinik sollte endlich ein Ambulanzfahrzeug für Neugeborene bekommen. Die Mittel waren schon im Finanzplan eingestellt. Doch nach dem russischen Angriff sei das Geld gestrichen worden. Dabei bräuchte man das Fahrzeug, ausgestattet mit einem mobilen Inkubator, derzeit umso mehr.  

Keine Fotos von Patienten - aus Sicherheitsgründen

Ein paar Kilometer außerhalb der Stadt befindet sich eine Rehaklinik. Nahe dem Ortseingang sind an einer Tafel Fotoporträts angebracht. Drei Reihen zu je sechs Stück. Alle haben einen schwarzen Balken unten rechts. Sie zeigen gefallene Soldaten. Auf der Tafel ist noch Platz. Verglichen mit der Geburtsklinik versprüht das Haus weiter postsowjetischen Charme: Die Fassade ist mit den typischen grauen Kacheln verkleidet, die im ganzen Land öffentliche Bauten aus der Spätphase der Sowjetunion zieren. Innen sieht man, dass die letzte Renovierung eine Weile her ist. Aber es funktioniert alles. Wenn auch manchmal nicht schnell genug für den medizinischen Direktor Roman Seredych: Als der Aufzug nicht gleich kommt, eilt er zur Treppe. 

Rehaklinik-Direktor Roman Seredych.
Rehaklinik-Direktor Roman Seredych.

© Marco Zschieck

Weil das Krankenhaus nicht nur Zivilisten, sondern auch Soldaten behandelt, soll nicht veröffentlicht werden, wo es sich genau befindet. Auch Fotos der Patienten soll es nicht geben. „So sind die Regeln. Wegen der Sicherheit“, sagt der Mediziner und zuckt mit den Schultern. Das Krankenhaus mit seinen 700 Betten sei eigentlich eine zivile Einrichtung, aber im geltenden Kriegsrecht sei es vom Militär als Reserve vorgesehen. Inzwischen seien nur noch 50 Prozent der Patienten Zivilisten aus der Region, die andere Hälfte seien Menschen, die aus dem Osten geflüchtet seien oder Soldaten. Oft werden die Verwundeten nach der Akutversorgung aus anderen Krankenhäusern in die Rehaklinik verlegt. Das sei auch bei den verwundeten Soldaten so.  

Albtraum an der Front

Die meisten Verletzungen gebe es durch Explosionen, erzählt Volodya Lykhach. Er kümmert sich als Psychiater um die mentale Rehabilitation. Schussverletzungen durch Gewehre oder ähnliches gebe es eher selten. „Ist die Explosion nah, ist man tot. Ist sie weiter weg, ist man schwer verletzt.“ Komplizierte Brüche, Splitter im Körper und Amputationen. Deshalb haben die Verletzungen oft andauernde Folgen, auch mental. Das gelte nicht nur für die Soldaten, sondern auch für Zivilisten. „Die haben oft zusätzlich alles verloren: Haus, Dokumente, das ganze Leben“, sagt Seredych. Man werde lange Zeit mehr Personal für die Rehabilitation brauchen. „Es gibt so viele Verletzte.“ Allein diese Klinik habe seit Februar 1000 Patienten aufgenommen. 

Die Intensität der Kämpfe sei selbst für erfahrene Soldaten gewaltig, sagt Volodya. „Veteranen, die seit 2014 im Donbas gedient haben, sagen, dass es seit Februar ein Albtraum an der Front sei. Vorher sei es im Vergleich dazu ein Kinderspiel gewesen.“ Die Berufssoldaten seien mental noch am besten vorbereitet. Sie hätten nicht nur Erfahrung, sondern in der Regel eine sogenannte Traumaausbildung, um mit lebensbedrohlichen Situationen auch mental besser umzugehen. Doch seit Februar seien auch Zehntausende neue Freiwillige in die Armee eingetreten.  

Psychiater Volodya Lykhach.
Psychiater Volodya Lykhach.

© Marco Zschieck

Einer der Berufssoldaten ist Vlad. Der 29-jährige Panzerfahrer kommt aus Kiew. Er sei Anfang März in der Stadt Tschernihiw (Chernihiv) bei einem Raketenangriff verwundet worden, erzählt der Unteroffizier. Es handele sich um eine schwere Rückenverletzung, sagt der Arzt. Mehr als drei Monate später fühlt er zwar Arme und Beine wieder, kann sie aber kaum bewegen. Neben seinem Bett steht ein Rollstuhl. Sobald er wieder fit sei, wolle er zurück zu seiner Einheit. „Wir brauchen die Leopard-Panzer“, sagt Vlad auf English. 

Sein Zimmernachbar Andrej, der lachend aus seinem Bett grüßt, ist nicht ganz so enthusiastisch, was eine schnelle Genesung angeht. Der 43-Jährige ist Hauptmann und hat im Donbas eine Einheit befehligt. Gleich am ersten Tag des russischen Großangriffs habe ihm bei der Stadt Popasna eine russische Artilleriegranate den rechten Unterschenkel zertrümmert. Was davon übrig ist, wird auch fast vier Monate später von einem Metallgestänge und Schrauben zusammengehalten. Immerhin konnten die Ärzte seinen Fuß retten. Auch an seinem anderen Bein sind Narben kleinerer Wunden zu erkennen.  

Er würde den Potsdamer Olaf Scholz gern fragen, wann denn die versprochenen Panzerhaubitzen kämen, sagt Andrej. Panzerhaubitze sagt er auf Deutsch. Artillerie sei eine mächtige Waffe. Er kenne sich da aus, sagt er und zeigt auf sein Bein. Einen Tag später wird von der ukrainischen Regierung gemeldet, dass die ersten Panzerhaubitzen aus Deutschland eingetroffen seien. 

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