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Potsdam: Endlich ein selbstbestimmtes Leben

Das Organic Village in Potsdam bietet Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen die Möglichkeit, in einem normalen Arbeitsumfeld tätig zu sein.

Potsdam - Christoph K.* steht mit der Flex in der Hand an seinem Lieblingsprojekt: Der Zaun, der das Grundstück am Horstweg 105 umrandet und vor unerwünschten Gästen schützen soll, ist ein altes Relikt aus DDR-Zeiten und hat bereits Rost angesetzt. K. arbeitet ihn auf. Dazu entfernt er zunächst den Rost, anschließend glättet er mit der Flex die Oberflächen und zum Schluss gibt er dem Zaun einen neuen Anstrich. Eine Sisyphus-Arbeit, die mehrere Wochen in Anspruch nimmt.

Doch genau das ist das Ziel der gemeinnützigen Initiative Organic Village: „Uns ist es nicht wichtig, schnell mit der Arbeit fertig zu sein, sondern das Arbeiten an sich steht im Fokus“, erläutert Geschäftsführer Alexander von Hohenthal. Organic Village ist eine gemeinnützige Initiative, die Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen helfen soll, wieder ein geregeltes Leben zu führen. „Mit Aufgaben, die sie ausfüllen und die einen Mehrwert haben“, so Hohenthal. Dazu sollen sie in einer Umgebung arbeiten, in der sie sich wohlfühlen, einem inklusiven Arbeitsfeld. Dabei bedeutet Inklusion weitestgehend im „normalen Arbeitsumfeld“, also jenseits von therapeutischen Tages- und Werkstätten.

Viele Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen seien allerdings entweder nicht in der Lage oder willens, in den klassischen Versorgungseinrichtungen zu arbeiten. Und dann sei die Gefahr groß, dass sie sich zu sogenannten Drehtürpatienten entwickeln – Menschen, die wieder Probleme bekommen, kurz nachdem sie etwa aus einer Klinik entlassen wurden. Denn psychische Erkrankungen seien zwar oft nicht komplett heilbar. „Aber ein selbstbestimmtes Leben und eine Verbesserung der Lebensqualität ist immer möglich“, betont von Hohenthal.

Dass es unter den größten Berühmtheiten der Weltgeschichte auch viele Menschen mit psychischen Erkrankungen gab, illustriert ein Kalender, der im vergangenen Jahr im Organic Village entstanden ist. Darin abgebildet sind beispielsweise Frederic Chopin, Rainer Maria Rilke, Jeanne D’Arc und Friedrich Hölderlin. Auch für 2018 haben die Projektteilnehmer wieder Menschen mit psychischen Erkrankungen porträtiert, auch um das noch häufig herrschende negative Stigma aufzuheben.

Alexander von Hohenthal hat gemeinsam mit seiner Frau, Julia von Hohenthal, das Organic Village aus einer Angehörigeninitiative heraus gegründet. Ihnen zur Seite stehen Geschäftsführer Christian Herboth und ein Team von drei geschulten Job-Coaches und zwei weiteren Mitarbeitern. Für die Hohenthals waren vor allem persönliche Gründe ausschlaggebend, denn eines der vier Kinder des Ehepaars ist psychisch erkrankt: „Wir kennen daher den Drehtüreffekt sehr gut“, sagt Alexander von Hohenthal.

2013 erwarben die Initiatoren das Objekt am Horstweg und wandelten es in den „Organic Village Projekthof Potsdam“ um. Wenn man sich alte Fotos anschaut, würde man sofort denken: ein undankbares Unterfangen. Das Haus schien seit den 50er-Jahren nicht ein einziges Mal generalüberholt worden zu sein. Perfekt für die Gründer des inklusiven Arbeitsprojekts. Denn so gab und gibt es viel Potenzial und vor allen Dingen sehr viel Arbeit. Die Fassade ist kürzlich erneuert worden, in Zusammenarbeit örtlicher Handwerker mit den Klienten der gemeinnützigen Gesellschaft. Gelebte Inklusion: „Das war von Anfang an unser Ziel. Das Haus wird Stück für Stück saniert und dabei arbeiten alle Hand in Hand“, erläutert Christian Herboth. Als Nächstes stehen das Treppenhaus und der Dachboden an, dann folgt der Garten, in dem sich bereits einige Hühner im Gehege tummeln. Im hinteren Gartenbereich ist für die Zukunft eine Gemeinschafts- und Begegnungsstätte geplant, in Zusammenarbeit mit den Prinzessinnengärten aus Berlin-Kreuzberg.

Christoph K. hat seine Arbeit für heute beendet. Es ist 12 Uhr, Mittagszeit. Seit 9 Uhr hat er gearbeitet. Länger seien die Arbeitstage für die meisten Klienten nicht, erläutert Alexander von Hohenthal. Denn diese Zeit an konzentrierter Tätigkeit stelle für einige Klienten bereits eine hohe Belastung dar. Daher sind Pausen und Auszeiten gerade am Anfang jederzeit möglich und willkommen.

Eingebettet ist das Projekt in ein von der Stadt Potsdam gefördertes sogenanntes Zuverdienstangebot für psychisch kranke Menschen, das erste seiner Art in Potsdam. Hierzu wird ein Zuverdienstvertrag geschlossen, der die Rechte und Pflichten analog zu einem regulären Arbeitsverhältnis regelt. Es werde allerdings kein klassischer Lohn gezahlt, sondern eine sogenannte Motivationszuwendung, so von Hohenthal.

Christoph K. nimmt noch am gemeinsamen Yoga-Kurs teil, um den Tag entspannt ausklingen zu lassen. Dann fährt er mit der Straßenbahn nach Hause. Was er besonders an dem Projekt schätzt: „Es ist das sehr angenehme Arbeitsklima. Und wir sind unter Gleichgesinnten.“ Davon mal ganz abgesehen, sei der Zaun für ihn ein richtiges Glanzstück geworden.

*Name geändert, Spendenkonto für die Arbeit der gemeinnützigen Organic-Village-Initiative: GLS Bank, IBAN: DE81 4306 0967 1125 6378 00

Beatrix Altmann

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