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Sabine Reinold betrachtet einen alten Türgriff, den sie 1985 beim Auszug aus der Villa Schöningen mitgenommen hat. 

© S. Schuster

Potsdam: Ein Leben im Kinderheim in der Villa Schöningen

Sabine Reinold wohnte jahrzehntelang in einem DDR-Kinderwochenheim – in der Villa Schöningen. Jetzt, 30 Jahre nach dem Mauerfall, kommen die Erinnerungen an diese Zeit in Potsdam zurück.

Potsdam - Ausgerechnet einen Türgriff haben Sabine und Gunter Reinold mitgenommen, als sie 1985 aus der Villa Schöningen auszogen. „Er war wackelig“, sagt Gunter. „Man hätte ihn sowieso ersetzen müssen.“ Mehr als drei Jahrzehnte und einige Umzüge später liegt er auf dem eleganten Beistelltisch neben der Couch des Ehepaars in ihrem Haus in Drewitz. Ein Stück Heimat, jederzeit griffbereit. Die Messingmuschel wiegt schwer in der Hand. 30 Jahre nach dem Mauerfall kommen die Erinnerungen zurück, als wäre alles erst gestern gewesen. Seit ein paar Monaten sammelt, ordnet und beschreibt die 63-Jährige, was die Mauer mit ihr und ihrer Familie gemacht hat.

Sabine Reinold wuchs in einem Kinderwochenheim auf, das die DDR in der Villa Schöningen an der Glienicker Brücke eingerichtet hatte – wohl das einzige, das je an einem Todesstreifen stand. Ihre Mutter, Helga Kempa, hatte das Heim 30 Jahre lang, von 1951 bis 1981, geleitet. Auf Reinolds poliertem Tisch in Drewitz stapeln sich die Unterlagen. Sie öffnet eine Karte mit einer gepressten Kuckucksblume. Eine Vertreterin des Elternaktivs gratuliert ihr, dem Kind der Heimleiterin, darin zum ersten Geburtstag.

Unruhe lag in der Luft am 13. August 1961 

Als am 13. August 1961 die Grenze zwischen Bundesgebiet und DDR mitten in der Nacht mit Stacheldraht und Steinen befestigt wurde, bildete die Persius-Villa am Potsdamer Ufer der Havel eine Art Brückenkopf. „Ich weiß noch, wie ich an diesem Sonntagmorgen meine Eltern suchte“, erinnert sich Sabine Reinold, damals gerade einmal sechs Jahre alt. Unruhe lag in der Luft, Menschenmengen drängten sich auf der Berliner Straße, gleich vor der Villa, um die Glienicker Brücke zu überqueren. Sie hatten Verwandte besucht, in Potsdam oder Berlin, wollten nun wieder nach Hause – und konnten nicht! Die Mutter stand auf dem Balkon, und diese Grenze schnürte ihr nahezu die Luft ab.

Gegen Kriegsende war die Erzieherin Helga Kempa hochschwanger aus Hinterpommern ins Brandenburgische Wittenberge gekommen. Sie traf dort Vater, Mutter, die behinderte Schwester, Tante und Großvater. Das Kind, Sabines Halbbruder, starb, kein Vierteljahr alt. Als Lehrerin hielt Helga Kempa sich und die Familie über Wasser, bis sie sich 1951 als Heimleiterin für einen Kindergarten mit angeschlossenem Heim in Potsdam bewarb – und genommen wurde. Sie bezog eine Einzimmer-Wohnung unterm Dach der Villa Schöningen. 

Die Villa Schöningen ist heute ein Museum. 
Die Villa Schöningen ist heute ein Museum. 

© B. Settnik/dpa

Kinder wurden am Montag abgegeben und am Samstag abgeholt

Die Villa, die der jüdischen, aus Deutschland vertriebenen Bankiersfamilie Wallich gehörte, war zuletzt von der DDR-Gewerkschaft FDGB in Besitz genommen worden. Während die Mütter dort arbeiteten, wurden ihre Kinder im Haus betreut. Um den Fachkräftemangel – auch durch die zunehmende Flucht in den Westen – auszugleichen, führten immer mehr Betriebe Schichtarbeit ein. Für die Kinder schuf man daher Kinderwochenheime, Kindergärten mit Übernachtungsmöglichkeit, in denen sie montagmorgens ab sechs Uhr abgegeben werden und am Samstag bis 14 Uhr wieder abgeholt werden konnten. Als Helga Kempa dort einzog, war das Heim erst wenige Monate alt. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und einem Hausmeisterehepaar versuchte sie, den Kindern ein echtes Heim zu schaffen. Ihr eigenes Kind, Sabine Reinhold, das 1955 zur Welt kam, gehörte dort mitten hinein. „Ich wurde erst im Wagen hinterher geschoben, wenn meine Mutter in den Räumen unterwegs war, dann bin ich selbst hinterher gekrabbelt“, sagt Sabine Reinold. Weil ihre Mutter Tag und Nacht zuständig war für die 38 Kinder, die regelmäßig über Nacht blieben, waren alle anderen Erzieherinnen auch Ersatzmütter für sie selbst. Helga Kempa ließ Gemüsebeete anlegen, Obstbäume pflanzen, jäten, ernten, einlegen. Die Kinder hatten reichlich Platz zum Spielen unter den alten Bäumen. Man feierte Karneval – „immer am Rosenmontag, weil die Muttis ihre Kinder dann selbst verkleiden konnten“, sagt Sabine Reinold. Am Nikolaustag wurden die gefüllten Stiefelchen aller Kinder auf der großen Freitreppe unter der Sternendecke im Foyer aufgereiht, in der Mitte ein großer Stiefel mit geschmückter Rute. Den Soldaten vor der Tür brachten die Kinder Ständchen zum Tag der Armee. Sie bekamen ihre Mittagsmahlzeiten aus der Kinderheimküche. „Alles meine Jungs“, sagte Helga, die von ihren Schützlingen „Mama Kempa“ genannt wurde.

Stasi gab Kinder von Inhaftierten mitten in der Nacht ab

Immer wieder stand auch die Stasi vor der Tür – nachts zumeist. Dann wurden Kinder abgegeben, deren Eltern inhaftiert worden waren. Noch Jahrzehnte später brach Helga Kempa in Tränen aus, als sie in einem Fernsehinterview danach gefragt wurde. „Wir haben sie dann in den Arm genommen, oder auf den Schoß, und haben gesagt: Wird alles wieder gut!“ – wohl wissend, dass das gelogen war. Sie bekamen ein Bett, blieben eine Nacht – und verschwanden dann irgendwohin. Listen, sagt Sabine Reinold, gab es bei ihnen nicht über diese Kinder.

1977 heiratet Sabine Reinold, inzwischen ausgebildete Sonderschul-Lehrerin, ihren Mann Gunter, der als Bauingenieur arbeitet. Auf dem Hochzeitsfilm, auf dem die Eheleute gemeinsam an einem Baumstamm herumsägen, kann man die Grenzanlagen sehen. Wohl auch deshalb gibt es nahezu keine Bilder von der anschließenden Feier, denn der Film kam nie aus dem Labor zurück. Wahrscheinlich wurde er der Stasi übergeben.

Das Leben am Todesstreifen wurde zunehmend zur Belastung

Weil der Wohnungsmangel in Potsdam so groß war, blieb die Familie auch nach 1981, als Helga Kempa in den Ruhestand ging, in den Zimmern unterm Dach der Villa Schöningen. Ein Jahr später stellte sich Nachwuchs ein: Sabine Reinold bekam eine Tochter, sodass sie zu viert waren und nunmehr drei Generationen in der Wohnung lebten. Doch glücklich waren sie dort nicht mehr, das Leben am Todesstreifen wurde zunehmend zur Belastung. Eines Nachts, 1982, versuchte wieder jemand zu fliehen. „Überall wurde geschossen – direkt neben uns!“, erinnert sich Sabine Reinold, die damals gerade erst entbunden hatte. Sie schnappte sich ihre Tochter und flüchtete mit den anderen vor dem Kugelhagel ins Treppenhaus. Von da an wollte sie weg: aus der Villa, aus dem Todesstreifen. Die Reinolds bauten ein Haus nicht weit entfernt, in der Tizianstraße, die Mutter zog mit ein. Aber der Widerwillen gegen die DDR wuchs. „Diese Ungerechtigkeiten überall!“, empören sich beide.

Der krebskranke Vater von Gunter Reinold erhielt im Krankenhaus kein Morphium, sodass er schrie vor Schmerzen. Gunter musste seine Medikamente über die Westverwandtschaft besorgen. Im Sommerurlaub an der Ostsee, 1986, beobachteten sie, wie ein Trabi mit Gepäckträger auf dem Dach von Männern in Zivil komplett durchsucht wurde. „Wir sahen uns an, und wussten: Jetzt wollen wir hier nicht mehr bleiben“, sagt Gunter Reinold. „Wir konnten nicht mehr atmen“, ergänzt seine Frau. Sie stellten einen Ausreiseantrag – wohl wissend, was das bedeuten konnte. Sabine Reinold, bis dahin geschätzte Kollegin in einer Sonderschule, wurde „rückwirkend fristlos entlassen“ ohne finanzielle Unterstützung; ihr Mann, damals in der Zwischenbetrieblichen Einrichtung (ZBE) Landwirtschaftsbau, durfte nicht mehr arbeiten, mit niemandem mehr reden – Isolationshaft im eigenen Büro. Freunde blieben weg. Eine schreckliche Zeit.

Sabine und Gunter Reinold leben heute in Drewitz.
Sabine und Gunter Reinold leben heute in Drewitz.

© S. Schuster

Helga Kempa, deren Ausreiseantrag abgelehnt worden war, obwohl sie längst Rentnerin war, kam von einem Verwandtenbesuch nicht mehr zurück – sie blieb in Schleswig-Holstein. Erst im Juli 1989 durften die Reinolds nachkommen. Sie bauten sich in Schleswig-Holstein ein neues Leben auf, den Türgriff aus der Villa immer griffbereit. Doch vor zehn Jahren, als Gunter Reinold ein Angebot bekam, in Berlin zu arbeiten, brachten sie ihn mit zurück nach Potsdam.

Das neue Kapitel der Villa Schöningen

Helga Kempa war es noch vergönnt, das neue Kapitel in der Geschichte der Villa Schöningen selbst mitzuerleben. 2009, als der Eigentümer, Springer-Vorstand Mathias Döpfner, das frisch sanierte Haus zum 20-jährigen Mauerfall-Jubiläum als Museum zur Geschichte der deutsch-deutschen Teilung eröffnete, war sie als Ehrengast mit dabei. Sie könne „schreien vor Glück“, sagte sie damals in einem Interview. 2015 starb Helga Kempa im Alter von 94 Jahren.

+++ Hintergrund: Villa Schöningen sucht Zeitzeugen

Die Villa Schöningen sucht anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls Zeitzeugen – und zwar vor allem jene, die von Stasi-Mitarbeitern als Kinder für eine Nacht im Kinderwohnheim abgegeben wurden. Wer kann sich daran erinnern, dort geschlafen zu haben, während die Eltern inhaftiert waren beziehungsweise verhört wurden? Und wohin wurden sie nach dieser einen Nacht gebracht? Zeitzeugen werden gebeten, sich per E-Mail an vs@villa-schoeningen.de zu wenden. 

Stefanie Schuster

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