zum Hauptinhalt

POSITIONEN: Ein Leben für Wissenschaft, Kunst und Demokratie

Heute erhält der Platz vor der Erlöserkirche den Namen von Dr. Rudolf Tschäpe (1943-2002), Mitbegründer des Neuen Forum Erinnerungen an eine legendäre Ausstellung auf dem Telegrafenberg Von Prof. Günther Rüdiger

Studiert hat Rudolf Tschäpe in den 60er Jahren Physik und Philosophie in Jena, wo man leicht Gleichgesinnte fand. Die hatten alle „Vom Wesen der Willensfreiheit“ von Max Planck gelesen, und erwarteten von der Physik, vor allem der Quantentheorie, erkenntnistheoretische Wunderdinge. Physik zu studieren und Physik zu verstehen war Zeitgeist und intellektuelle Herausforderung. Rudolf aber war der einzige von allen Studenten, die ich kannte, der in Antiquariaten nicht nur nach Büchern, sondern auch nach Bildern und Skulpturen suchte.

Als Diplomphysiker ging er nach Sonneberg in die dortige Sternwarte, eine Nische im DDR-System, wo Direktor Cuno Hoffmeister seinen jungen Anhängern Sondergenehmigungen zur Einreise ins Grenz-Sperrgebiet verschaffte, in dem die Sternwarte seit 1961 lag. Bald durfte man aushilfsweise nachts an eines der Teleskope. Aber der nächste Computer stand fast 100 Kilometer entfernt in Jena. So war es die „BESM6“ des Meteorologischen Dienstes auf dem Telegrafenberg – von heute aus gesehen ein Taschenrechner von Zimmergröße mit Wachschutz – der Rudolf Tschäpe bald danach nach Potsdam ans Astrophysikalische Observatorium gelockt hat. Die Physik hatte sich in der Zwischenzeit von der Philosophie zur numerischen Mathematik gewandelt .

Zum Traum von Potsdam ist Rudolf Tschäpe die direkte Begegnung von Kunst und Wissenschaft geworden. In der DDR war das ein abenteuerlicher Plan, der vor allem die Staatssicherheit interessierte. Die Intellektuellen sollten getrennt bleiben und nicht etwa gemeinsame, womöglich subversive Positionen entwickeln. Fassungslos meldet ein Stellvertreter Operativ aus Potsdam an den Genossen Generalmajor Mittig in Berlin, dass „erstmalig in unserem Bezirk ein Bereich der Akademie der Künste offiziell sich in einem Bereich der Akademie der Wissenschaften präsentiert“. Hervorstechender Wesenszug der Werke des Künstlers sei die Misere des Menschen. Die Plastiken des Katalogs „lassen allein schon erkennen, dass ein normal empfindender Bürger unserer Republik keineswegs Lebensfreude aus solchen Darstellungen schöpfen kann“. Und überhaupt, „Initiator Tschäpe wird wegen staatsfeindlicher Hetze, Wehrdienstverweigerung und zur Zeit noch undefinierbarer Verbindungen zu Kirchenkreisen bearbeitet.“

Es handelte sich um die im Sommer 1974 in der Kuppel des Großen Refraktors auf dem Telegrafenberg stattfindende erste große Werkausstellung des Cremer-Meisterschülers Wieland Förster. In seiner Eröffnungsrede hat Heinz Schönemann die Ahnung der jungen Naturwissenschaftler benannt, dass sich ihr „Forschen nicht nur im sachlichen Zahlenbereich vollziehen kann, sondern der menschlichen Phantasie und sozialen Kontrolle bedarf, wie sie sich in der Kunst manifestiert.“ Das heute legendäre Zusammentreffen der Kulturen auf dem Telegrafenberg in Potsdam hat exakt die Zeitenwende hin zur Herrschaft des Computers über Wissenschaft und Gesellschaft markiert.

Die eben fertiggestellte spektakuläre Große Neeberger Figur sollte auf Wunsch der Organisatoren und des Künstlers auf dem Telegrafenberg verbleiben, sie hätte leicht neben dem Refraktorgebäude und dem Einsteinturm bestanden. Dafür hat es aber kein Verständnis beim damaligen Institutsdirektors Hans-Jürgen Treder gegeben, dem die Moderne ganz fremd geblieben ist. Nie wieder sind sich Mitarbeiter beider Akademien so nahe gekommen wie bei dieser Ausstellung. Als spätes Denkmal für das Zusammentreffen kann die Skulptur „Nike 89“ angesehen werden, die der Verein „Lindenstrasse 54“ im Jahre 1999 auf der Potsdamer Seite der Glienicker Brücke als Symbol einer geglückten Revolution aufgestellt hat.

Rudolf Tschäpe hat sich wegen seiner ungewöhnlichen Aktivitäten in der DDR unter ständiger staatssicherheitsdienstlicher Beobachtung befunden. Trotzdem ist es ihm zusammen mit seinem Kollegen Reinhard Meinel gelungen, bei einem geheimen Treffen am 9./10. September 1989 in Grünheide bei Berlin den Gründungsaufruf des Neuen Forum mitzuformulieren und zu unterzeichnen. Wieder waren Kunst und Wissenschaft zusammengetroffen, diesmal mit dem Ergebnis, dass in der verkrusteten DDR öffentlich geredet werden müsste, aber nicht vom Sozialismus, sondern über Demokratie. Das bis dahin Unvorstellbare wurde am Montag im Institut publik: Eine neue Partei, wir hielten den Atem an. Das Ergebnis ist bekannt. Am 3. November fand in der überfüllten Erlöserkirche in aller Öffentlichkeit die erste Vollversammlung des Potsdamer Neuen Forum statt, mit der Vorstellung des ersten Sprecherrates, darunter Rudolf Tschäpe, Reinhard Meinel, Detlef Kaminski und Ute Platzeck.

Die Akademie der Wissenschaften wurde laut Einigungsvertrag aufgelöst. Das neu errichtete Astrophysikalische Institut musste sich auf dem Weltmarkt behaupten. Computer und Teleskope entwickelten sich in Riesenschritten. Fast geräuschlos verschwanden Kunst und Kultur aus dem Arbeitsalltag. Rudolf Tschäpes Interesse kehrte zurück zu den Quasaren, über die er schon als Neuling kurz nach ihrer Entdeckung seinen verblüfften Sonneberger Kollegen berichtet hatte. Zuletzt fuhr er wieder in seine alte Sternwarte. Mit nagelneuer Technik wurden alte Photoplatten gescannt. Er wollte die Lichtveränderungen einiger Sterne über mehrere Jahrzehnte studieren, um möglichst langdauernde stellare Magnetzyklen zu finden, so wie man es von der Sonne kennt.

Für sein Engagement zur Einführung der Demokratie in Ostdeutschland hat Rudolf Tschäpe im Jahre 1995 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit Mitstreitern wie Bärbel Bohley und Marianne Birthler erhalten. Er ist heute vor sechs Jahren nach langer Krankheit kurz vor Fertigstellung seines neuen Wohnhauses in Ferch verstorben.

Unser Autor arbeitet am Astrophysikalischen Institut Potsdam (AIP) und war Kollege von Dr. Rudolf Tschäpe

Zur Startseite