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POSITION: Tochter der Zeit

Zur Geschichte der Jüdischen Theologie in Deutschland Von Giuseppe Veltri

Von dem römischen Schriftsteller Aulus Gellius stammt der Satz, dass die Wahrheit Tochter der Zeit sei, veritas filia temporis.1 Er meinte wohl nur, dass die Wahrheit mit der Zeit ans Licht kommt, man müsse also abwarten, dass jeder Umstand geklärt, jeder Grundstein von Ablagerungen geläutert, jede Lüge entlarvt werde. Später hat man die sybillinische Mehrdeutigkeit des Satzes erkannt: Die Wahrheit sei ein Produkt der Zeit, sie lebe in und von der Zeit und die Zeit kann sie unendlich verändern. Somit wird der Spruch gleichsam Ausdruck des wissenschaftlichen Fortganges, der in jeder Entdeckung die Vorläufigkeit des Resultates mit berücksichtigt, aber auch Ausdruck einer aufklärerischen optimistischen Philosophie und Theologie ist, die die Zeit als Faktor zur Bestimmung der Wahrheit sieht: Eines Tages werden wir ja schließlich die endgültige Wahrheit erfahren. Auch die jüdische Theologie, historisch ein Produkt der jüdischen wissenschaftlichen Beschäftigung und Begeisterung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, war und bleibt eine Tochter der Zeit: sie glaubte an die endgültige Aufklärung durch die Zeit und wusste gleichzeitig und paradoxerweise, dass die Zeit sie auch in ihrem Wahrheitsanspruch tiefgreifend verändern kann. Die Epoche der Entstehung einer Anstalt, die die jüdische Theologie hätte beherbergen sollen, war sicherlich nicht durch Toleranz und Verständnis seitens der herrschenden Regierung und Kirche gekennzeichnet, aber der romantisch geprägte Geist der Wissenschaft ließ sich davon nicht abschrecken. Die Wissenschaft des Judentums und deren Verfechter standen vor Trümmern, wie es Leopold Zunz 1818 ausdrückte,2 oder vor dem „in ungeordnetem Chaos vorliegenden Stoff“,3 wie es 1836 Abraham Geiger stärker philosophisch-theologisch formulierte. Es fehlte ein kritischer, analytischer und wissenschaftlicher Umgang mit und Zugang zu Literatur, Philosophie, Religion und Geschichte des Judentums als Ganzes. Man stand vor einer umfangreichen Aufgabe und keine staatliche Institution konnte oder wollte dabei helfen. Denn das kulturelle Klima war der jüdischen Vergangenheit und Gegenwart gegenüber feindlich geworden, theologisch war das Judentum sicherlich nicht mehr ein positives Objekt christlicher Aufmerksamkeit, wie in den vorangegangenen Jahrhunderten nicht selten - zumindest an protestantischen Universitäten - der Fall war. Damals hat man Hebräisch und Aramäisch mit Leidenschaft und Profit studiert, um die Philologie der hebräischen Bibel, aber auch die Literatur der Juden direkt aus den Quellen zu schöpfen, um die Religion des auserwählten Volkes zu begreifen, die das Christentum nolens volens erst möglich gemacht hat. Die Liebe für das hebräische Wort wurde dann zur Philologie wie wir sie heute kennen, und zur Bibelkritik, die das moderne Verständnis der alten Quellen beeinflusst hat. Akademisches und politisches Ziel Geigers war eine Gleichberechtigung der jüdischen Theologie innerhalb der Theologien und universitätsbezogene Disziplinen, oder wie er in schönem Stil ausdrückt: „sobald sie eintritt, die Theologie, in die Reihe der Wissenschaften, da hat sie einen Bund geschlossen mit ihren Schwestern, unauflöslich, unzertrennlich;  Hand in Hand gehen sie vereint dahin, einen eignen Kreis bildend, freundlich einander unterstützend, aber auch den gerechten Anspruch machend, daß die gegenseitige Freundschaft gesucht werde“ (S. 6). Die Hoffnung in einer gegenseitigen Freundschaft zwischen den Disziplinen und den (theologischen) Wissenschaften  war bekanntlich vergebens.

Die gesuchte Gleichberechtigung missglückte, aber nicht die Debatte, die die Forderung nach sich zog. Vehement wurde bei den deutschen Juden von Ende des 19. Jahrhunderts bis kurz vor der Schoa diskutiert, ob eine Angleichung an die protestantische Vorstellung von Theologie in die jüdische Tradition und religiöse Vorstellung überhaupt hinein passte. Leo Baecks Buch „Das Wesen des Judentums“, das im Jahre 1905 als Antwort auf Harnacks „Das Wesen des Christentums“ (1899/1900) verfasst wurde, deckte das Thema einer jüdischen Theologie im vollen Umfang ab. Baeck stützte sich in seiner Studie auf Hermann Cohens Definition des Judentums als „ethischer Monotheismus“5 und bestritt scharf, dass es im Judentum eine Dogmatik und damit eine Orthodoxie gäbe. Diejenigen, die von jüdischen Dogmen sprächen, würden dem Judentum den Rang einer Konfession zuweisen. Die Lehre des Judentums sei aber keine Glaubenslehre, sondern „eine Lehre, die zu erfüllen ist, eine Lehre, die den Lebensweg bestimmt“.6 Was die Vergleichbarkeit mit dem Christentum anging, so war Baeck der Ansicht, dass diese notwendigerweise der Assimilation Vorschub leiste, während das Judentum doch „das Unantike in der antiken Welt [sei], das Unmoderne in der modernen Welt. So sollte der Jude sein: der große Nonkonformist in der Geschichte, ihr großer Dissenter“.7 Aus der Sicht  von Leo Baeck  besteht der jüdische Nonkonformismus in dem Widerstand gegen das Allgemeine, indem man gegen die totalitäre Moderne kämpft.  Baeck deutete die jüdische  religiöse Identität  im Ganzen als nonkonform, auch weil die Mehrheit eine globalisierende Tendenz zur Glättung der Divergenzen vertrat. Was diese unheimliche Tendenz u.a. dann hervorgebracht hat, brauche ich hier nicht eigens zu erwähnen.

Nach 1945 gab es zunächst keine Versöhnung zwischen deutscher und jüdischer Wissenschaft. Erst in den 60er Jahren wurden in Westdeutschland einige Lehrstühle eingerichtet, die direkt oder indirekt  Leopold Zunz‘ Ziel nach einer akademischen Vertretung der „Wissenschaft des Judentums“ an der Universität folgten. Im 1979 wurde die Hochschule für Jüdische Studien an der Universität Heidelberg gegründet, eine jüdische Institution, die der heutigen Satzung zufolge, „der Pflege und Entwicklung der jüdischen Geisteswissenschaften und der ihnen verwandten Disziplinen [dienen soll].“ Die deutsche Einheit hat nicht nur politisch sondern auch akademisch eine Wende hervorgebracht: eine Vielzahl von Universitäten hat Lehrstühle, Institute und  Zentren neu eingerichtet, die das Judentum historisch, literarisch, philosophisch und kulturgeschichtlich  in der Lehre und der Forschung vertritt.  Unter der Bezeichnung „Judaistik“ oder „Jüdische Studien“ wurden mehr als 30 Lehrstühle an deutschen Universitäten und Hochschulen besetzt.

Die „Jüdische Theologie“ war noch nicht namentlich angesprochen; sie besaß eine akademische Nische, die man eher mit USA als mit Deutschland verband, obwohl es die deutschen Juden waren, die die Debatte über Existenz, Ziel und Breite einer theologischen Fakultät geführt hatten. Die Wiederkehr der jüdischen Theologie nach Deutschland zusammen mit der  Rabbinerausbildung hat mit dem Abraham Geiger Kolleg zu tun, dessen 15- jähriges Bestehen wir heute feiern.  In diesem Sinne hat auch der Außerminister Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede am 13.11.2014 bei der Festveranstaltung zum 10. Jahrestag der Berliner Erklärung der OSZE auf diese erfreuliche Entwicklung hingewiesen  und kommentiert: „Jüdisches Leben ist zurück im Herzen dieses Landes und dort gehört es hin! Das ist ein Glück, eine Bereicherung, deren wahre Bedeutung auch viele in unserem eigenen Land noch nicht erkannt haben.“

Die Debatte um eine Jüdische Theologie an der Universität wurde vor kurzem wieder entfacht. Denn in seinen am 29. Januar 2010 veröffentlichten Empfehlungen hatte der Wissenschaftsrat das breite Feld der theologischen und religionsbezogenen Wissenschaften als Ganzes in den Blick genommen, um die Diskussion über Funktion und Zukunft von Theologien und religionsbezogenen Fächern anzuregen. Die Vielfalt der Theologien im Plural wurde befürwortet und ihre jeweilige Berechtigung besonders hervorgehoben. Der Jüdischen Theologie wird damit ihre wissenschaftliche Vertretung an Universitäten nicht nur nicht verweigert, sondern wärmst anempfohlen und angeregt. Ihr  wird politisch zur Geburt verholfen und sie kann den gleichen konfessionellen und akademischen Status beanspruchen wie denjenigen der  katholischen und protestantischen Theologie. Die Vielfalt der Theologien soll also dem preußischen „Sinne der neuen, die starren Unterschiede ausgleichenden Freiheit“ trotzen und die Vielfalt der Konfessionen betonen. 

Vielfalt ist aber ein trügerisches Wort. Sie ist eine sinnliche und intellektuelle Wahrnehmung; sie ist aber noch nicht Freiheit. Letztere ist doch ein ethisches Ziel, das man nicht allein durch Wahrheit (also Kultur und Bildung) erreicht, man muss sie haben wollen, verfolgen und dafür kämpfen, weil sie nicht (nur) die eigene meint, sondern die Anerkennung und Forderung der Freiheit der anderen, auch das von jenen gewolltes Ziel zu erreichen. Und damit sind zurück bei der skeptischen Haltung, die das Judentum charakterisiert: Die Aufgabe einer jüdischen Theologie ist es nicht nur, ihre akademische Stelle in der Universität vollrechtlich und gleichberechtigt zu besetzen, sondern ihre eigene Aufgabe immer neu zu definieren. Baecks skeptische Haltung den damaligen Theologien gegenüber wird auch heute zum Programm, wie einer der Väter der modernen Jüdischen Theologie, Rabbiner Louis Jacobs,  schreibt: „Jüdische Theologie ist der Versuch, den tieferen Sinn der jüdischen Religion beständig neu zu durchdenken“. Die ewige Aufgabe der Jüdischen Theologie besteht also darin,  in die Tiefen der Interpretationen und Ausformungen des „Meeres der Tradition - wie man die Halacha gern bezeichnet-  einzutauchen. Das ist gleichzeitig ein immer neu zu definierendes „Wesen des Judentums“ in einer jüdischen Theologie, die zur wahren Tochter der Zeit wird. 

Der Vorsitzende des Verbandes der Judaisten Deutschlands Prof. Dr. Giuseppe Veltri (Universität Hamburg) hält am heutigen Dienstagabend im Centrum Judaicim Berlin die Festrede zum 15-jährigen Bestehen des „Abraham Geiger Kollegs“ an der Uni Potsdam. Der Text basiert auf Auszügen seiner Rede.

Giuseppe Veltri

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