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Künstlerin Jenny Alten.

© Ottmar Winter PNN

Porträt | Künstlerin Jenny Alten: Die Wurzelwerkerin

Von „Oracle“ zum Orakel: Die Künstlerin Jenny Alten rückt den früheren Koksseparator in der Schiffbauergasse einen Sommer lang in neues Licht.

Potsdam - Als Jenny Alten irgendwann im Mai zum ersten Mal den Fahrstuhl im Oracle-Turm betritt, ist da plötzlich doch dieser Gedanke: Ist das alles nicht purer Größenwahn? Ein ganzes Gebäude als Leinwand, das war der Plan. Dazu eine Kunstform, mit der sie noch nie gearbeitet hatte: Licht.

Idee für das Projekt seit 2013 im Kopf

Sie hatte das Gebäude in der Schiffbauergasse lange davor im Auge gehabt – und die Idee für das Projekt, das sich auf vier Stockwerken jetzt dort ausbreitet und in den kommenden Wochen weiter wachsen soll, schon seit 2013 im Kopf. Damals war sie in der Galerie am Jägertor zu Gast, hatte begonnen, sich mit Membranen zu befassen: Mit diesem Etwas, das durchlässig ist – aber nie ganz. Mit der Frage, was Drinnen und Draußen trennt. Mit der Idee, das an Fenstern zu untersuchen.

Die Galerie war dafür zu klein. Sie brauchte mehr Platz, viel mehr. Ein ganzes Gebäude, und zwar leer: Wie der „Oracle-Turm“, nachdem der Softwarehersteller dort ausgezogen war. Das Gebäude gehört der ILB, dort war man bald einverstanden. So kam Jenny Alten zu der größten Leinwand, auf der sie je gemalt hat.

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35 Meter hoch ist der Bau, eine klinkerverkleidete Stahlkonstruktion mit gläsernen Fassadenteilen. Gebaut wurde der Turm als Koksseparator. In den 1950er Jahren erst, aber die Industriearchitektur knüpft an die Dreißiger an – eine Zeit, mit der Jenny Alten sich viel beschäftigt hat. In einem früheren Projekt (Gebärmuttern aus Gips) spürte sie der Geschichte ihrer Großmutter nach. Auch eine Jenny. Aber glühende Anhängerin der Nazis: eine Gynäkologin, die für den Führer sechs Kinder bekam. Das Projekt ist gescheitert, sagt Jenny Alten, aber nicht zu Ende.

Jenny Alten, geboren 1977 in Westberlin, hat seit 2011 ein Atelier im Freiland. 
Jenny Alten, geboren 1977 in Westberlin, hat seit 2011 ein Atelier im Freiland. 

© Ottmar Winter PNN

„Orakel“ heißt die Arbeit in der Schiffbauergasse. Eine Referenz an das jüngste Kapitel in der Geschichte des Hauses, und auch ein Tasten in Richtung Zukunft. Die gesamte Fensterfront zum See hat Alten zur Membran gemacht: Hat sie mit weißer Farbe überstrichen und dann in den getrockneten Farbauftrag wieder Spuren hineingekratzt. Allein ging das nicht, Alten stemmte das „in Symbiose“ mit zwei Helferinnen – und einem Staubsauger, für die Farbreste. Die Reste sollen in einer nächsten Arbeit wieder auftauchen.

Zwei Gesichter der Installation

„Orakel“ hat zwei Gesichter, eins am Tag, ein anderes in der Nacht. Tags ziehen sich die freigekratzten Spuren wie Adern über die Fenster: Adern, die die Wirklichkeit hineinlassen. Wer drinnen im stickigen Geruch der Auslegware steht, sieht Schnipsel des fantastischen Blicks über den Tiefen See. Früher trennten die Stockwerke drinnen keine Etagen, sagt Jenny Alten: Diesen Zusammenhang würde sie draußen gern wieder spürbar machen.

35 Meter Kunst. Jenny Altens Projekt „Orakel“ am „Oracle-Turm“. Foto: Erna Schielden
35 Meter Kunst. Jenny Altens Projekt „Orakel“ am „Oracle-Turm“. Foto: Erna Schielden

© Erna Schielden

Nachts entfaltet „Orakel“ seine eigentliche Kraft. Dann werden die Scheiben von innen angestrahlt, die Fenster leuchten von außen in grün, blau, rosa, lila, gelb. „Orakel“ ist für die Besucher gedacht, die nach Sonnenuntergang hierher kommen. Nach ein paar Wochen vor Ort weiß Jenny Alten: Wenn die Theaterbesucher:innen weg sind, bleiben vor allem Jugendgruppen, mit schlechter Musik und warmem Bier. Die nicht wissen, wohin an lauen Sommerabenden. Für sie dürfte „Orakel“ wie eine Verheißung sein: vier Stockwerke, die in der Dunkelheit bunt leuchten, in Rhythmen flackern. Wie die präpandemische Erinnerung an einen Club, ohne Musik. Oder an Graffiti auf glattsanierter Fläche? Auch das wäre eine Erinnerung: an die Schiffbauergasse, wie sie mal war. Unbehaust, wild. Lebendig. Ja, „Orakel“ ist auch eine Arbeit über Potsdam.

Alten schreibt Drehbücher, unter anderem für Netflix

Wer mit Jenny Alten über ihre Arbeit spricht, merkt schnell: Das, womit sie aktuell die meiste Zeit verbringt, ist immer verwoben mit anderen Projekten. Mit abgeschlossenen und mit denen, die es noch gar nicht gibt. Sie springt vom einen zum nächsten, von den abstrakten Bildern, die sie in der Corona-Zeit in Ermangelung von Leinwänden auf Papier schuf, zum Drehbuchschreiben. Die Arbeit an künstlerischen Projekten erkauft sie sich mit diesem anderen Job: Drehbüchern. Aktuell eine Netflix-Serie über eine Frau, die allein im Wald landet und dort überleben lernt. Mit dem Regisseur hat sie sich viel über das Biotop Wald unterhalten. Bäume. Pilze. Rhizome.

Welt ohne Zentrum, ohne Autorität

Ein Rhizom soll auch „Orakel“ sein. Davon erzählt schon die Struktur auf den Fensterscheiben: Das könnten Narben sein, oder weit verzweigte Wurzeln. Ein Rhizom ist in der Botanik ein oft unterirdisches „Sprossachsensystem“. Der Philosoph Gilles Deleuze hat sich den Begriff geborgt und daraus eine Theorie gemacht, mit der Jenny Alten sich beschäftigt hat. Gegen ein hierarchisch strukturiertes Weltbild setzt Deleuze das Prinzip der Vielheit: eine Welt ohne Zentrum, ohne Autorität, ohne fixe Strukturen.

Jenny Alten, geboren 1977 in Westberlin, wuchs mit solchen Ideen auf. Seit 2011 hat sie ein Atelier im Freiland. „Meine Eltern sind richtige Alt-68er“, sagt sie. Der Vater: Religionswissenschaftler, die Mutter: Medizinerin. Beide Mitbegründer des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds. Die Mutter beschreibt sie als Adressatin ihrer Kunst – den Vater als ihr Gegenüber in der Theorie.

Anarchisches Gewächs im durchsanierten Quartier

„Orakel“: ein anarchisch wucherndes Gewächs also – mitten im durchsanierten Erlebnisquartier, Top-Lage. Alten sieht darin durchaus auch eine Konsumkritik. Das Immer-weiter-immer-mehr des Kapitalismus habe sich ja längst als zerstörerisch erwiesen, sagt sie. „Nur kann ein einfaches Back to Nature auch keine Antwort sein.“ 

Das findet sie naiv. Die Aufgabe sei es, ein Zukunftsmodell zu entwickeln, in dem der Mensch sich mit dem Status-quo arrangiert – mit den Errungenschaften der Technik, nicht ohne sie. Am liebsten hätte sie es, wenn der riesige Kran noch mal zum Einsatz kommt, der die „Oracle“-Buchstaben Anfang Juni abmontiert hat. Jenny Alten sucht Größe, ja, aber ohne Wahn. Das Beste an „Orakel“, sagt sie: Dass es irgendwann einfach nicht mehr da sein wird.

„Orakel“, Vernissage am Freitag, 25. Juni, um 20 Uhr, mit einer Eröffnung von Bettina Jahnke und Musik von Udo Koloska, Nicolas Schulze und Özgür Yilmaz

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