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Manche Ratten kletterten durch das gekippte Fenster, blieben stecken und verendeten dort. 

© Ottmar Winter PNN

Plage in Drewitzer Wohnung: Der alte Mann und die Ratten

In einer Drewitzer Einraumwohnung hat ein Potsdamer Senior mehr als 100 Nager beheimatet. Jetzt läuft eine Räumungsklage.

Von Carsten Holm

Potsdam - Es ist eine traurige Geschichte, die da inmitten einer Plattenbausiedlung im Potsdamer Süden spielt. Sie handelt von einem älteren, einsamen Mann, der in seiner Drewitzer Einraumwohnung mehr als 100 Ratten gehalten und offensichtlich die Kontrolle über die Vermehrung seiner Mitbewohner verloren hat. Die Geschichte handelt aber auch von dem Ekel, den andere Bewohner des fünfstöckigen Mietshauses über Monate ertragen mussten. Sie erzählen, dass sich beißender, geradezu bestialischer Gestank ausbreitete, wenn die Wohnungstür zur Rattenresidenz geöffnet wurde. So stark und so widerlich sei der gewesen, dass ein Polizeibeamter bei einem Einsatz würgend ins Freie flüchten musste, um sich nicht im Flur zu übergeben. Und es geht um monatelange Bemühungen mehrerer Ämter der Stadtverwaltung, dem 66 Jahre alten Mann zu helfen. 

Räumungsklage der Hausverwaltung

Sie stehen ihm auch jetzt zur Seite: Die Hausverwaltung, die RBB Immobilien Berlin, hat eine Räumungsklage durchgesetzt. Sobald in einigen Tagen die letzten Ratten in der Wohnung gefunden und eingefangen sein werden, muss er sein Zuhause verlassen. Das wird nicht einfach: Ratten sind nicht leicht zu finden. Sie verkriechen sich in kleinste Schlupflöcher oder Schränke, wenn jemand naht, den sie nicht kennen. Die Wohnungshilfe der Stadt bemüht sich indes, eine neue Bleibe zu finden. Kontaktversuche der PNN mit dem Rentner scheiterten, er befindet sich seit zwei Wochen in einem Krankenhaus. Seine Anonymität soll gewahrt bleiben.

Ratten haben keinen guten Leumund. Sie gelten als Infektionsträger und fallen nur auf, wenn sie, gut genährt von Abfällen, mit nassem Fell und dünnem, langen Schwanz scheu über die Straße huschen, bevor sie in einem Gully verschwinden. Die Ratten von Drewitz aber sind keine Kanalratten, sie sind Haustiere, die ihr Lebensumfeld auf die Wohnung im Plattenbau beschränken und sie nicht verlassen. Das Portal „Einfachtierisch.de” preist solche Zuchtnager als „intelligente, wunderbar gesellige Zeitgenossen”, die sich, „sanft an Menschenhände gewöhnt, eher anfassen und streicheln lassen als Meerschweinchen oder Kaninchen”. 

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Ein früherer Weggefährte, den die PNN ausfindig machten, schätzt den Drewitzer Rattenvater als äußerst zurückgezogen lebenden, tierlieben Menschen. Gelegentlich führte er seine Mitbewohner sogar aus. Begleitete ihn eine seiner Ratten auf dem Weg zum Einkauf, sahen Nachbarn, wie deren spitzes Gesicht mit den Knopfaugen, Tasthaaren und den kleinen Ohren oberhalb des Reißverschlusses possierlich aus der Jacke herausragte, so wie es auch manche Kinder und Jugendliche schätzen. Die Haltung von Kleintieren können Vermieter kaum verbieten, im Fall von Ratten aber gibt es eine widersprüchliche Rechtsprechung - weil viele sie als eklig empfinden. Sicher jedoch würden Gerichte große Populationen wie die in Drewitz nicht erlauben.

Nachbarin Christina Fischer.
Nachbarin Christina Fischer.

© Ottmar Winter PNN

Wohl seit dem Sommer hatte der alte Herr die Lage offenbar nicht mehr im Griff, Dutzende Ratten tummelten sich in der kleinen Wohnung. Standen die beiden Fenster zur Straße und zum Hof hin auf Kipp, lugten die Nager wie neugierig durch die schmalen Spalte des Rahmens. Gern, so beobachteten es Nachbarn, machten sie sich zu einer kurzen Exkursion auf. Beim Klettern an den Rahmen müssen sich tierische Tragödien abgespielt haben. Ratten blieben in den Spalten hängen und konnten sich nicht mehr befreien. Blutspuren auf dem Sims des Fensters zur Straßenseite belegen, was Hausbewohnerin Christina Fischer den PNN erzählte: „Die hingen fest und fraßen sich gegenseitig auf.” Die 51 Jahre alte Einzelhandelsmitarbeiterin wohnt seit neun Jahren in dem Mietshaus, das mit einer Warmmiete von unter 500 Euro für eine Zweiraumwohnung bis heute zu den günstigen gehört.

"Das macht was mit einem"

Sie ekelte sich vor den Ratten an den Fenstern und machte Anfang Juni das Gesundheitsamt und das Ordnungsamt auf den Fall aufmerksam, ergebnislos. Am 24. Juni hielt sie es nicht mehr aus. Als sie von der Arbeit nach Hause kam, saßen drei Ratten auf dem Fensterbrett eines Fensters. „Schrecklich war das”, sagt Fischer, „das macht was mit einem.” Sie alarmierte die Polizei und ist voll des Lobes: „Die waren noch bei einem Einsatz und klingelten um 22.30 Uhr.” Sie hätten auch mit dem Rattenhalter gesprochen und „alles angeschoben”. Am nächsten Tag kamen Mitarbeiter des Ordnungs- und des Veterinäramts und transportierten auf einen Schlag rund 40 quietschlebendige Ratten in Boxen ab. Im Juli derselbe Ärger. Mal öffnete der Rattenvater und mal nicht, wenn Ordnungsleute kamen, ab und an nahmen sie ein paar Dutzend Ratten mit, mehr als 100 sollen es im Lauf der Zeit gewesen sein.

Eingeklemmte Ratte in Drewitz.
Eingeklemmte Ratte in Drewitz.

© Ottmar Winter PNN

Ein paar Tage war es ruhig, am 21. September schlug Fischer nochmals Alarm, weil wieder Ratten in den Fenstern turnten. Für Rattenkenner ist das nicht überraschend: Rattenmütter bringen pro Wurf sechs bis zehn Jungtiere zur Welt und sind danach sofort wieder empfängnisbereit. Der Nachwuchs, blind, nackt und taub geboren, bringt das Kinder- und Jugenddasein eines Nagers schnell hinter sich und ist drei bis vier Wochen nach der Geburt geschlechtsreif. Die Tragezeit beträgt rund drei Wochen. „Wenn man das nicht steuert, indem man etwa männliche und weibliche Ratten trennt, hat man innerhalb weniger Monaten Tausende neuer Jungtiere”, sagt Marko Hafenberg, Betreiber des Exoten-und Gefahrtierzentrums in Brandenburg an der Havel. 

Christina Fischer hatte die Hausverwalter von der RBB Immobilien Berlin mehrfach auf den unzumutbaren Missstand aufmerksam gemacht, am 24. September erhielt sie von ihnen eine Mail. Der Mieter sei „durch uns abgemahnt”, hieß es, der Räumungsantrag für seine Wohnung „durch das Gericht bereits erteilt”. Der Gerichtvollzieher könne die Räumung vollziehen: „Wie lange das dauert, liegt nicht in unserem Ermessen.” Die Stadt geht davon aus, dass die Mitnahme der letzten Ratten noch ein paar Tage dauert.

Gnadenbrot für die Ratten

Die mehr als 100 lebenden Ratten wurden zu Marko Hafenberg nach Brandenburg an der Havel gebracht. Sie werden in seinem Tierzentrum allerdings nicht, wie es oft vorkommt, Schlangen, Echsen und Krokodilen als Lebendfutter serviert. „Die Qual ersparen wir ihnen”, sagt Hafenberg, der in solchen Fällen seit Jahren mit der Stadt Potsdam kooperiert: „Das sind doch Haustiere, die mit Liebe gepflegt wurden. Wir trennen sie nach Geschlechtern, um die Population nicht zu vergrößern. Und dann bekommen sie bei uns in Rattengehegen ihr Gnadenbrot.”

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