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Kamera läuft: Das Oster-Film-Camp in Babelsberg.

© Andreas Klaer

Partizipatives Filmprojekt in Babelsberg: Auf der Suche nach dem idealen Europa

Nach Reisen durch 16 Länder arbeitet des Team des Dokumentarfilms "Finding Europe" jetzt im Projekthaus Babelsberg weiter. Auch hinter der Kamera stehen filmische Laien.

Potsdam - Die Technik passt in einen Rucksack. Wer heute Film machen will, braucht nicht mehr als eine gute Fotokamera, die auch Video in 4K-Qualität aufnimmt, ein Stativ, Mikrophone sowie einen Audiorekorder, der auch nicht größer als eine Kompaktkamera ist. Mark und Viviane Uriona vom Filmnetzwerk Kameradistinnen haben die Technik auf dem Tisch in der Medienwerkstatt im Projekthaus Babelsberg ausgebreitet und erklären auf Englisch, worauf es ankommt. Welche SD-Speicherkarte wo reingesteckt wird. Dass das riesige Mikro mit wuscheligen Windschutz – der „Hund ohne Beine“ – nie im Bild sein darf. Dass man den Zoom besser nur sehr sparsam verwendet. Und überhaupt: „Seid nicht hektisch mit der Kamera, seid lieber buddhistisch“, rät Mark Uriona. Die angehenden Filmemacher sollen sich Zeit nehmen für die Aufnahmen, einer Bewegung langsam folgen, keine wilden Schwenks versuchen, so wie man es aus dem Kino zu kennen meint. „Das passiert erst im Schnitt.“

"Partizipativer Dokumentarfilm": Die Kameradistinnen setzen auf Mitsprache

Sieben Jugendliche und junge Erwachsene aus Potsdam sitzen am Mittwoch, dem ersten Tag des Oster-Filmcamps, um den Tisch mit der Technik. Bis zum Ostersonntag werden sie Teil des dokumentarischen Filmprojektes „Finding Europe“, das die Kameradistinnen gemeinsam mit dem Babelsberger Studio Kalliope mit Unterstützung des Goethe-Instituts 2020 auf den Weg gebracht haben. Bei Reisen durch 16 europäische Länder – außer Serbien alles Mitglieder der Europäischen Union - sind Stimmen von sogenannten „gewöhnlichen“ Menschen eingefangen worden. Auch dabei standen jeweils meist filmische Laien hinter der Kamera.

„Partizipativer Dokumentarfilm“ nennen die Kameradistinnen den Ansatz, den sie seit ihrer Gründung vor rund zehn Jahren verfolgen. Laien vor Ort werden in die Filmproduktion eingebunden, finden Protagonisten und Locations, führen Interviews selbst. Wer im Film vorkommt, der oder die ist nicht nur „Objekt“ vor der Kamera, sondern nimmt teil am Entstehungsprozess, kann mitreden. „Es geht um Authentizität und Teilhabe, und auch darum, Machtstrukturen aufzuweichen“, erklärt Mark Uriona. Das sei insbesondere bei Filmprojekten im globalen Süden wichtig, sagt der 47-Jährige. Es geht nicht um den europäischen Blick auf die Menschen, sondern um ihren eigenen Blick auf sich selbst.

Wie müsste das Europäische Haus aussehen, damit sich die Bewohnerinnen darin wohl fühlen?

So wie beim vorigen Kameradistinnen-Projekt, dem Film „One Word“, der 2020 in die Kinos kam. Dafür waren Uriona und seine Mitstreiter ein dreiviertel Jahr auf den Marshallinseln im Pazifik unterwegs, wo der steigende Meeresspiegel in absehbarer Zeit zur existenziellen Bedrohung wird. Gemeinsam mit rund 80 Marshalles:innen entstand ein Dokumentarfilm über Menschen, deren Zuhause auf dem Spiel steht.

Um ein Zuhause soll es auch bei „Finding Europe“ gehen: das Europäische Haus, die Europäische Union und seine Bewohner:innen. Seit den Anfängen, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, sei dieses Haus immer weiter gewachsen und habe immer mehr Zimmer bekommen, sagt Mark Uriona. „Aber das haben sich die Unionsbürger nicht selbst erkämpft.“ Wie würde das Europäische Haus aussehen, wenn es von den Bewohner:innen übernommen und „renoviert“ werden würde? Wie müsste die Europäische Union gestaltet sein, damit sich die Bewohner:innen darin wohl fühlen und sich mit ihr vielleicht sogar mehr identifizieren als mit dem eigenen Land?

In Potsdam treffen die Protagonist*innen aus neun Ländern erstmals aufeinander

Diesen Fragen nach einer möglichen Zukunft Europas soll „Finding Europe“ nachgehen. Das Team knüpfte bei seinen Reisen mit dem Wohnmobil durch Europa Kontakte in 16 Ländern und filmte jeweils in Kleinstteams mit Menschen vor Ort. Aus der ursprünglich vorgesehenen workshopbasierten Arbeit wurde coronabedingt nichts, auch die Reisepläne müssten wegen diverser Einreisevorschriften immer wieder geändert werden, berichtet Uriona.

Jetzt in Potsdam treffen die interviewten Protagonist:innen aus neun Ländern erstmals direkt aufeinander – die Weinbauerin aus Italien auf die Kinobetreiberin aus Großbritannien, der Bibliothekar aus Polen auf die Kindergärtnerin aus Frankreich. Sie werden im Projekthaus Babelsberg, wo die Kameradistinnen nicht zum ersten Mal zu Gast sind, ihre Interviews auf Großleinwand sehen können. Sie können dann sagen, welche ihrer eigenen Aussagen sie am wichtigsten finden, ob sie manche Dinge heute – auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – anders sehen und sagen würden. Diese Beschäftigung mit den eigenen Aussagen soll auch im fertigen Film zu sehen sein, gefilmt von den Potsdamer Projektteilnehmenden. Dass auch Teilnehmende aus Russland und der Ukraine dabei sind, sei besonders spannend, sagt Uriona. Ob das auch im fertigen Film zur Sprache kommen wird – darüber entscheiden die Betroffenen selbst.

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Im Sommer soll der anderthalbstündige Film fertig werden

Mit dabei im Projekthaus ist zum Beispiel der 17 Jahre alte Juri, der über das Skateboarding den Zugang zum Film und zu Video fand. „Aber mir hat immer der Anstoß gefehlt, mich damit genauer zu beschäftigen und meinem Wunsch näher zu kommen“, sagt er. Der Workshop sei nun eine gute Möglichkeit dafür, hofft er. Auch der 26-jährige Federico, der in seiner Heimatstadt Bologna Musik studiert hat, momentan auf Reisen ist und für ein paar Monate im Projekthaus Station gemacht hat, möchte sein Können einbringen: „Ich glaube an die Idee des Filmprojekts“, sagt er.

Fertig werden soll der anderthalbstündige Film im Sommer. Im Babelsberger Thalia-Kino ist eine Testvorführung geplant, auch die Reaktionen dieses ersten Publikums sollen gefilmt werden und noch mit in die endgültige Fassung einfließen. Die Kameradistinnen sind mit dem Fernsehsender Phoenix im Gespräch für eine Ausstrahlung.

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