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Der 66-jährige Engländer Robert lebt im Wald gegenüber des Lidl-Markts in Bornim. In eine Unterkunft zu gehen lehnt er ab.

© Andreas Klaer

Obdachlosigkeit in Potsdam: Ohne Heim, aber mit Schutz

Hunderte Menschen sind in Potsdam wohnungslos. Sie leben in Notunterkünften, aber auch auf der Straße und in Wäldern. Wie sie den zweiten Corona-Winter durchstehen und wer ihnen hilft.

Von Carsten Holm

Potsdam - Der Mann, der an einer Parkbucht an der Potsdamer Straße in Bornim vor seinem Zelt steht, heißt Robert. Er ist Engländer, 66 Jahre alt und einer der bekanntesten Wohnungslosen der Stadt. Er lebte einst am Bassinplatz und am Hauptbahnhof, dann zog er um – und haust mittlerweile schräg gegenüber des Lidl-Markts. Immerhin ist er warm angezogen, mit seiner Winterjacke, dickem Pulli, Mütze und Handschuhen trotzt er den Temperaturen, die nur knapp über dem Gefrierpunkt liegen.

Seit dem ersten Besuch der PNN vor Ort vor zwei Jahren scheint Robert sich kaum verändert zu haben. Nur sein breiter, völlig verklebt wirkender Rasta-ähnlicher Zopf ist auf einen halben Meter gewachsen. Er hat Schlimmes durchlitten. Im November 2019 überfielen ihn in zwei unbekannte Täter nach Mitternacht und schlugen ihn. Im Februar dieses Jahres wurde sein Hab und Gut durch ein Feuer zerstört, womöglich war es ein Brandanschlag. Er hat all das aushalten müssen. „Aber ich fühle mich hier wieder sicher“, sagte er den PNN am Freitag.

Robert gehört zu den wenigen Obdachlosen, die Angebote von Sozialarbeitern ablehnen, Unterschlupf etwa in einem Zimmer der Winternothilfe zu finden: Er wolle in der Natur bleiben. Trotzdem schauen sie regelmäßig nach ihm.

Gyros, Bifteki - und manchmal Hühnersuppe

Er hat das große Glück, dass Gentian Dalipaj, Kellner im Restaurant Knossos Palast gegenüber, ihm Tag für Tag warmes Essen ans Zelt bringt: Gyros, Bifteki, auch mal Hühnersuppe. Vor zwei Jahren klagte Robert, dass sein Zelt verschlissen sei. PNN-Leser brachten ihm ein neues. Am vergangenen Freitag erzählte er, dass sein größeres, lilafarbenes Zelt, in dem er schläft, hinüber sei und er auch einen Gaskocher gut gebrauchen könne.

In Deutschland hatten laut der jüngsten Statistik der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAG W) 2018 rund 678 000 Menschen keine Wohnung, 441 000 von ihnen waren Geflüchtete. In Potsdam sind nach aktuellen Angaben der Stadt derzeit rund 250 Frauen und Männer in Notunterkünften untergebracht, weitere 74 Potsdamer fanden im Rahmen der städtischen Winternothilfe eine Bleibe in der Obdachlosenunterkunft am Lerchensteig oder in eigens angemieteten Pensionen. 

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Wie viele darüber hinaus die Nacht in den warmen Serviceräumen von Banken und Sparkassen, in der Kälte der Wälder, in Fahrradschuppen oder unter Brücken wie am Kaiserbahnhof verbringen, wird nicht erfasst.

Bettlerinnen stammen zumeist aus Bulgarien und Rumänien

Was die Frauen und Männer erleiden, die keine eigene Wohnung mehr haben, wird nur zu einem kleinen Teil im Stadtbild sichtbar. Die Bettlerinnen, die in der Brandenburger Straße wie mit Klagegesängen um Geld bitten, stammen zumeist aus Bulgarien und Rumänien. Manche beginnen den Tag in der Suppenküche der Volkssolidarität am Rathaus, weil das Frühstück dort kostenlos und der Raum geheizt ist. Einige schlafen im Freien.

Beherzte Chefin. Jacqueline Fremde leitet die Suppenküche seit März 2021.
Beherzte Chefin. Jacqueline Fremde leitet die Suppenküche seit März 2021.

© Andreas Klaer

Die Suppenküche, die seit dem überraschenden Tod des jahrelangen Chefs Peter Müller in diesem März von der 43 Jahre alten Jacqueline Fremde beherzt geleitet wird, ist eine zentrale Anlaufstelle für Bedürftige. Es treffen sich die eher Stillen wie Angelika Budick, die leise darüber klagt, dass sie 30 Jahre gearbeitet hat, Telefonistin im Autobahnbau-Kombinat ABK war und trotzdem mit 850 Euro Rente klarkommen muss. Der 82-jährige Herbert Kinder schwärmt vom Mittagessen und von Kaffee und Kuchen.

Herbert Kinder (82) kommt seit vielen Jahren täglich zum Essen in die Suppenküche.
Herbert Kinder (82) kommt seit vielen Jahren täglich zum Essen in die Suppenküche.

© Andreas Klaer

„Zitteraal“ fehlt an diesem Tag, der alte Herr, dessen Hände zittern, weil er angeblich 20 Bier am Tag trinkt. Aivars Barkans, 37-jähriger Dachdecker aus Lettland, sammelt mit seinem Landsmann Konstantin Vasiljew, 23, Pfandflaschen und freut sich jeden Tag über das Frühstück. Die 31-jährige Gental aus Litauen schläft am Frühstückstisch ein, der Abend davor war hart. Olaf, 42 Jahre alt, gehört zu den eher Großmäuligen. 

Er lasse sich „im Winter mit Braun und im Sommer mit Grün“ volllaufen. „Braun“ steht für Rum oder Brandy, „Grün“ für Pfefferminzlikör. Er tönt, er wolle „nie wieder zurück ins System“. Am Freitag gab es für die Besucher der Suppenküche ein Festessen: Das DRK und der Lions Club Potsdam-Sanssouci servierten Entenkeule mit Kohl und Kartoffeln.

In der Suppenküche der Volkssolidarität in Potsdam werden täglich bedürftige Menschen versorgt – mit Frühstück und einer warmen Mahlzeit.
In der Suppenküche der Volkssolidarität in Potsdam werden täglich bedürftige Menschen versorgt – mit Frühstück und einer warmen Mahlzeit.

© Andreas Klaer

Streetworker suchen in den Wäldern nach Obdachlosen

Eine der wichtigsten Erfolge der Sozialarbeit in der Landeshauptstadt: In mehr als 15 Jahren ist kein Mensch in Potsdam an Kälte gestorben. Der letzte derartige traurige Fall ereignete sich 2005, ein 41-Jähriger fand im Babelsberger Park nach der Zwangsräumung seiner Wohnung den Kältetod. Anderswo gibt es solche Tragödien noch immer. Bundesweit starben laut BAG W im vergangenen Winter 23 Obdachlose durch Kälte.

Essenausgabe an Bedürftige in der Suppenküche.
Essenausgabe an Bedürftige in der Suppenküche.

© Andreas Klaer

Um das zu verhindern, pirschen die drei Streetworker der Wohlfahrtspflege „Creative Sozialarbeit“ (Creso) durch die Stadt. Chefin Jessica Platz, ihre Kollegin Gaelle Trüggelmann und Thomas Hübner durchstreifen auf der Suche nach Obdachlosen zu Fuß auch die Wälder im Potsdamer Norden, ab und an entdecken sie zwischen den Bäumen ein Zelt. Sie haben Dosensuppen, nie aber knackige Äpfel dabei. „Die können die meisten mit ihrem schlechten Gebiss nicht beißen.“ Die Lösung: Apfelmus.

Streetworkerin Jessica Platz.
Streetworkerin Jessica Platz.

© Andreas Klaer

Sorge macht den Creso-Leuten, dass vor allem Migrant:innen aus den EU-Staaten „richtig Angst vor Corona“ hätten. Sie verstünden wegen ihrer Sprachbarriere Regelwerke wie 2G oder 3G nicht, es gebe Aufklärung für Flüchtende in deren Muttersprache wie Farsi, nicht aber auf Polnisch oder Rumänisch. „Wir brauchen Sprachmittler, Ärzte, die ihnen die Angst vor der Impfung nehmen“, sagt Platz.

Nirgendwo wird der tiefe Sturz in die Wohnungslosigkeit so aufgefangen wie im Obdachlosenheim der AWO am Lerchensteig 55. Betriebsleiter David Weidling teilte am Freitag die aktuelle Belegung mit: 72 Männer und neun Frauen im Alter von 30 bis zu mehr als 70 Jahren haben dort ein Quartier, hinzu kommen drei Frauen und vier Männer in der Notaufnahme, die 24 Stunden besetzt ist. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt dreieinhalb Jahre, ein Potsdamer lebt seit 25 Jahren dort.

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Einen Übernachtungsplatz organisiert zumeist, auch für Geflüchtete, die Arbeitsgruppe Unterbringung der Stadt. Lerchensteig-Chef Weidling schildert zwei aktuelle Fälle: Am 28. Oktober bezog ein Potsdamer ein Notbett, nachdem seine Wohnung am selben Tag zwangsgeräumt worden war. Er hatte weder Einkommen noch Krankenversicherung. Die Arbeitsgruppe hatte ihn an die AWO vermittelt, am 10. November wurde er ins Heim eingewiesen. Die AWO stand ihm beim Antrag für das Arbeitslosengeld II zur Seite, nach drei Wochen floss das erste Geld vom Jobcenter. Bis dahin versorgte sie ihn mit Lebensmitteln, Fahrkarten und Hygieneartikeln.

Die Streetworker von creso versorgen Obdachlose unter anderem mit warmer Kleidung und Schlafsäcken.
Die Streetworker von creso versorgen Obdachlose unter anderem mit warmer Kleidung und Schlafsäcken.

© Andreas Klaer

Der zweite Fall: Ein Mann bekam am 4. September ein Notbett, er hatte nach seiner Haftentlasssung auf der Straße gelebt. Die Sozialarbeiter motivierten ihn dazu, einen Alkoholentzug zu beginnen. Dann musste er wieder ins Gefängnis, weil noch ein Haftbefehl bestand. „Er hält aus der Haft regelmäßig telefonischen Kontakt zu uns und möchte nach der Entlassung direkt zu uns zurückkehren“, sagt Weidling.

AWO hat Defizite im Sozialsystem der Stadt ausgemacht

Oft verschließen Potsdamer Bürger nicht die Augen, wenn sie Elend sehen und wählen den Notruf. Heiko Schmidt, Sprecher der Polizeidirektion West, hat solche Einsätze aus drei Tagen zusammengetragen. 3. November, 23.51Uhr: hilfloser Mann am Schillerplatz. Der 73-Jährige ohne festen Wohnsitz bittet um ein Taxi zum Lerchensteig. Geld hat er dabei. 

Am 4. November, 4.58 Uhr ein Anruf einer Frau in der Rettungsleitstelle: Ein „ganz, ganz alter Herr“ habe bei ihr geklingelt und um eine Hose sowie warmen Tee gebeten. Die Polizei kommt und nennt dem 60-Jährigen die Anlaufstellen für Obdachlose. Am 5. November um 3.18 Uhr ein Alarm am Bahnhof Medienstadt. Ein 88-Jähriger, der nur Englisch spricht und keinen festen Wohnsitz hat, ist hilflos. Ein Streifenwagen bringt ihn ins Obdachlosenheim.

Erhebliche Defizite hat die AWO im Sozialsystem der Stadt ausgemacht. So sei das Jobcenter „sehr schwer erreichbar“, aus Sicht der Heim-Bewohnerinnen und Bewohner „quasi geschlossen“. Corona-Teststellen seien für Ungeimpfte nur zu Fuß erreichbar, da der ÖPNV ohne Test nicht genutzt werden könne. Zudem müssten die AWO-Beratungsstellen bei Erstanträgen helfen, obwohl das nicht ihr Auftrag sei. Außerdem, so AWO-Chefin Angela Schweers: „Wie soll jemand online einen Antrag ausfüllen, der auf der Straße lebt?“

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