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Noch heute vermisst: Einbetoniert?

Vor 36 Jahren verschwand in Potsdam ein Junge. Seitdem hält sich – auch bei Ermittlern – ein Verdacht: Die Leiche könnte in der Humboldtbrücke einbetoniert sein

Gerd Berthold wäre heute 51 Jahre alt. Wäre. Denn seit 36 Jahren gilt der Potsdamer als vermisst. Es war Freitag, der 25. März 1977, als seine Mutter den damals 15 Jahre alten Jungen zum letzten Mal sah: Er besuchte sie gegen Mittag auf ihrer Arbeitsstelle. Wenig später war ihr Junge wie vom Erdboden verschluckt. Nur der Turnbeutel wurde noch gefunden – auf der damals gerade im Bau befindlichen Humboldtbrücke.

Wegen dieser letzten Spur hält sich seitdem ein Verdacht: Der Junge könnte getötet und der Leichnam in die Humboldtbrücke einbetoniert worden sein. Der Verdacht besteht bis heute, erzählt der beim Landeskriminalamt (LKA) in Eberswalde für nicht gelöste Vermisstenfälle zuständige Kriminalhauptkommissar Holger Nigrin den PNN. Viel ist nach dem jungen gesucht worden – nur eines ist nie erfolgt: Der Brückenbau als möglicher Tatort sei nie mit technischen Geräten durchleuchtet worden. Erst 1996 hat es die Potsdamer Staatsanwaltschaft abgelehnt, die Brücke zu durchleuchten, nach dem Jungen zu suchen. Die Polizei, die den Fall damals immer wieder untersuchte, hatte darum gebeten.

Im Büro von LKA-Ermittler Nigrin in Eberswalde liegen die Akten zum Fall „Gerd Berthold“. Es ist der älteste von sechs ungeklärten Potsdamer Langzeitvermisstenfällen. Die Erkenntnisse aus der Akte: Der Junge lebte mit seiner Familie in der Helene-Lange-Straße in der Nauener Vorstadt. Am 25. März besuchte er seine Mutter gegen 12.30 Uhr an ihrer Arbeitsstelle. Die Mutter sagte ihm, er solle ein Tonbandgerät aus einer Werkstatt in der Friedrich-Ebert-Straße holen. Später wollte Gerd Berthold noch zum Judo-Training in das Pionierhaus – dem heutigen Treffpunkt Freizeit.

Ende der Spur.

„Ich kam dann gegen 23.30 Uhr nach Hause und stellte fest, dass mein Sohn Gerd noch nicht zu Hause war“, heißt es in der damals von der Mutter aufgegebenen Vermisstenanzeige. So sei sie mit ihrer Tochter zum Pionierhaus gefahren. Doch dort war nur noch ein Nachtwächter. „Wir haben dann alle Verwandten und Bekannten aufgesucht und befragt, aber mein Sohn Gerd hat sich dort nicht gemeldet.“ Der Vater des vermissten Jungen fährt derweil in die Turnhalle in der Heinrich- Mann-Allee, in der sein Sohn tags darauf einen Judowettkampf bestreiten wollte. Auch dort war er nicht.

Die Polizei sucht den Jungen. Erfolglos.

Die Mutter berichtet den Beamten, dass Gerd auch schon im März gern im Heiligen See schwimmen ging. So wurde auch dort gesucht. Doch die Spurensuche an seiner Lieblingsbadestelle: erfolglos.

Was blieb: sein Beutel mit der Sportkleidung auf der Humboldtbrücke. Sonst nichts.

Das Merkwürdige: Nur der Judoanzug und eine Badehose des Jungen werden gefunden. Nicht aber seine Geldbörse mit seinem Pionierausweis, sagt Ermittler Nigrin: „Möglicherweise hat jemand die Sachen gezielt an sich genommen.“ Nur wer und wo? Und wo blieb der Junge? Nigrin: Der Täter könnte den Leichnam im Zuge der Bauarbeiten im Beton verschwinden lassen haben.

Ja, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Potsdam, Sarah Kress, diese Möglichkeit bestehe. 1996 habe es die vage Anregung eines Ermittlers gegeben, die Brücke in Teilen aufzubohren und zu durchleuchten. Dies habe die Staatsanwaltschaft abgelehnt. Zu teuer, zu unverhältnismäßig die Methode. Zu wenig Aussicht auf Erfolg. Zudem seien die Ermittler 1977 davon ausgegangen, dass der Leichnam des Jungen eher im Wasser der Havel unter der Brücke versenkt worden sei, so Kress weiter. Diese Variante habe als wahrscheinlicher gegolten. Der auf der Brücke gefundene Sportbeutel lasse sich auch so erklären, dass der Junge dort spielte oder badete, heißt es in dem damaligen Bescheid der Behörde. Nur aufgetaucht ist Gerd Berthold bis heute nicht.

Neuere Ermittlungen gibt es nicht; warum der Fall ausgerechnet 1996 noch einmal auf den Tisch der Ermittler kam – weder Kress von der Staatsanwaltschaft noch Nigrin vom LKA wissen es. Zu lang her, das Ganze, sagen beide.

Dabei hätte 36 Jahre nach dem Verschwinden des Jungen eine Möglichkeit zur Suche bestanden: Die Humboldtbrücke wird derzeit umfangreich saniert. Die Hälfte der oberen Deckensanierung ist fertig, wie Stadtsprecher Stefan Schulz bestätigte – und im unteren Brückenbereich sei mit Betonarbeiten begonnen worden. Die Arbeiten dauern bis 2015. Doch eine Suchaktion nach einem einbetonierten Leichnam ist nicht geplant.

In Potsdam machte der Fall trotz der Dramatik schon 1977 kaum Schlagzeilen – über mögliche Kapitalverbrechen wurde in der DDR ohnehin fast nie oder nur in geringem Umfang berichtet. So findet sich in den „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“, der Vorläuferin der PNN, erst rund zwei Wochen nach dem Verschwinden des Jungen eine kleine Meldung: „Jugendlicher wird vermisst“, dazu eine Personenbeschreibung. „165 cm groß, untersetzte Figur, braune Haare, Scheitel links.“ Es folgt der Verweis auf den gefundenen Beutel.

Selbst Zeitzeugen kennen den Fall daher kaum. Auch Norbert Praetzel kann sich nicht daran erinnern. Er war ab 1984 als Ingenieur für den Betrieb der Brücke zuständig: „Ich habe von diesem Verdacht noch nie gehört.“ Auch der 1977 zuständige Bauleiter habe sich bei einem Anruf nicht daran erinnern können – „obwohl das ein echter Thriller ist“, erzählt Praetzel. Er ist heute Potsdams Straßenamtschef – und damit auch zuständig für die Brücke, an der sich die Spur zu Gerd Berthold vor 36 Jahren verlor.

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