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Reinhard Böhm mit den Fotografien aus dem Nachlass seines Vaters.

© Ottmar Winter

Nie umgesetzte Stadtmodelle: Ein anderes Potsdam

Reinhard Böhm hat als Jugendlicher seinem Vater beim Modellbau geholfen: Viele Architektur-Entwürfe für die Potsdamer Innenstadt aus den 1950er-Jahren wurden nie verwirklicht.

Potsdam - Potsdam hätte auch so aussehen können: Schiene, Schiff und Straße verknüpft an einer Stelle. Vom Bahnhofsneubau mit schlichtem geschwungenem Dach und der Bahnhofshalle mit langem Säulengang über den Vorplatz sind es nur ein paar Treppen hinab zum Hafen an der erweiterten Neuen Fahrt, an dessen Westseite ein zweistöckiger Rundbau einen Akzent setzt. 

Zur Anbindung in die Innenstadt gibt es neben der Langen Brücke eine weitere Querung über die Freundschaftsinsel. Am anderen Havelufer ist eine Ecke des Stadtschlosses zu sehen, gegenüber im Lustgarten das Ernst-Thälmann-Sportstadion. Ausgesprochen modern wirkt der Entwurf zur Umgestaltung des Potsdamer Stadtzentrums auch heute noch. Die Schwarz-Weiß-Fotografie des Modells lässt erahnen, dass es aus einer anderen Zeit stammt.

Schiff meets Schiene: Der Potsdamer Hauptbahnhof verbunden mit einem neuen Hafen.
Schiff meets Schiene: Der Potsdamer Hauptbahnhof verbunden mit einem neuen Hafen.

© privat/Repro: PNN

PNN-Leser Reinhard Böhm hat diese und weitere Aufnahmen aus dem Nachlass seines Vaters aufbewahrt, eine ganze Mappe ist es. Carl Böhm arbeitete als Modellbauer für Architektur, erst freiberuflich im zur Werkstatt umfunktionierten Schlafzimmer in der Wilhelmshorster Wohnung, seit 1959 und bis zu seinem Tod 1977 in einer Werkstatt in der Dortustraße für das Büro für Städtebau für den Bezirk Potsdam. Ob die Modelle noch irgendwo existieren, ist unklar.

Garnisonkirche, Heiligengeistkirche, Stadtschloss: Die Planer gingen vom Wiederaufbau aus

Reinhard Böhm half seinem Vater schon als Teenager gern mit – er klebte Flächen aus Schaumgummi, war für die Bäume zuständig oder mit dem Fotoapparat unterwegs, um Bauwerke vor Ort im Detail festzuhalten. „Das hat mich einfach interessiert“, sagt der 79-Jährige heute. Später, während der Lehre als Elektromechaniker, verdiente er sich mit Modellbauarbeiten für den Vater ein paar Mark hinzu - und finanzierte sich damit Stück für Stück die Ausstattung der ersten eigenen Wohnung mit „Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher".

Potsdamer Innenstadt mit wiedererrichteter Garnisonkirche und Stadtschloss.
Potsdamer Innenstadt mit wiedererrichteter Garnisonkirche und Stadtschloss.

© privat/Repro: PNN

Die Entwürfe der Potsdamer Stadtplaner und Architekten, die Carl Böhm seit den frühen 1950er-Jahren in akribischer Bastelarbeit umsetzte, zeigen eine Stadt, in dem Stadtschloss, Garnisonkirche oder Heiligengeistkirche, zu dem Zeitpunkt alle in Ruinen liegend, wie selbstverständlich Teil der Innenstadt sind, wiederaufgebaut. Über die bemerkenswerten Bahnhofspläne berichtete auch diese Zeitung – damals noch Brandenburgische Neueste Nachrichten – erstmals im Mai 1951. Umgesetzt wurden sie bekanntlich nie.

Jahrzehntelanges Ringen um das Aussehen der Potsdamer Mitte

In der Realität wurde 1959 mit dem Abriss der Stadtschlossruine begonnen. Das Ringen um das künftige Aussehen der Potsdamer Mitte mit sozialistischem Antlitz zog sich über Jahrzehnte hin, erst in den späten 1980ern wurde mit dem Neubau eines Theaters am Alten Markt begonnen. Der Rohbau wurde nach dem Mauerfall abgerissen, machte Platz für den Wiederaufbau des Schlosses. 1968 war die noch zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als Kapelle genutzte Turmruine der Garnisonkirche gesprengt worden, 1974 die Heiligengeistkirche.

Areal zwischen Burgstraße und Großer Fischerstraße mit rekonstruierter Heiligengeistkirche.
Areal zwischen Burgstraße und Großer Fischerstraße mit rekonstruierter Heiligengeistkirche.

© privat/Repro: PNN

Die Trümmer der Garnisonkirche, erinnert sich Reinhard Böhm, sind damals nach Wilhelmshorst geschafft worden. Die brauchbaren Steine seien für die Erweiterung der damaligen Schule – der heutigen Kita Ameisenhügel – verbaut worden, der übrige Schutt wurde als Unterbau für die Straße An den Bergen genutzt, berichtet er.

Die Böhms landeten nach der Vertreibung aus dem Sudetenland 1945 in Wilhelmshorst

In Wilhelmshorst lebt Reinhard Böhm mit seiner Frau Renate bis heute. Im Alter von drei Jahren war er mit seinen Eltern und den zwei älteren Brüdern dorthin gekommen. Die Familie war aus ihrer Heimat in Dörfel im nun tschechischen Liberec (Reichenberg) vertrieben worden. „Sie hatten das Haus 1945 gerade abbezahlt“, erzählt Reinhard Böhm. Eine Hand-Getreidemühle, kaum größer als eine Pfeffermühle, bewahren die Böhms noch immer auf, als Erinnerung an die Flucht. 

Mit der hatte Ida Böhm am Wegesrand gefundenes Getreide gemahlen, um daraus karge Mahlzeiten für ihren Mann und die Kinder zuzubereiten. „Sie hat uns das Leben gerettet.“ Der Vater, so erzählt man sich in der Familie, habe derweil im Kornfeld die Mohnblüten gezeichnet. Ohne den Sinn seiner Frau fürs Praktische wäre Carl Böhm verloren gewesen, nicht nur auf der Flucht, ist sich Schwiegertochter Renate Böhm sicher.

Der Modellbauer Carl Böhm (1900-1977).
Der Modellbauer Carl Böhm (1900-1977).

© privat/Repro:PNN

Carl Böhm muss man sich als kauzigen und kreativen Tausendsassa vorstellen. Als junger Mann ist er überzeugter Vegetarier – damals längst nicht so verbreitet wie heute. Als Imker erwirbt er sich viel Fachwissen und gibt es als sogenannter Bienen-Wanderlehrer an andere weiter. Noch bis lange in die DDR-Zeit hinein pflegte er den Kontakt mit Bienenkunde-Koryphäe Ludwig Armbruster in Berlin und Konstanz. 

Nach der Oberschule in Reichenberg musste Carl Böhm 1918 noch Kriegsdienst in der österreichischen Armee leisten und arbeitete danach in verschiedenen Tätigkeiten in der Tuchindustrie. Böhm war freiberuflicher Textil- und Modezeichner, hatte ein eigenes Stickerei-Atelier, das er in Folge der Weltwirtschaftskrise 1930 verkaufte. Dann versuchte er sich mit einer Feldgärtnerei, vermittelte zwischenzeitlich am Arbeitsamt Arbeitskräfte in die Textilbranche, war Statistiker und Zeichner.

Jobs als Gärtner, Zeichner und im Sägewerk

In Wilhelmshorst muss er sich, mit Mitte 40, eine neue Existenz aufbauen, was er offenbar mit Verve angeht. Zunächst arbeitet er als Gärtner in der Gaststätte Forsthaus Templin – die heutige Braumanufaktur. Dann zeichnet er freiberuflich für die Deutsche Saatzucht-Gesellschaft und verdient sein Brot als Bauhilfsarbeiter und in einem Sägewerk in Michendorf, wo er 1949 bei einem Arbeitsunfall schwer verletzt wird. „Ein Holzstapel ist auf ihn gefallen“, erzählt Reinhard Böhm. Einige Jahre ist er arbeitsunfähig, unterstützt wird die Familie in der Zeit auch vom „Bienenprofessor“. 1953 beginnt Carl Böhm dann mit dem Modellbau.

Neubau für den Rundfunksender Conakry im westafrikanischen Guinea.
Neubau für den Rundfunksender Conakry im westafrikanischen Guinea.

© privat/Repro: PNN

Dafür hatte er sich zuhause eine kuriose Konstruktion erdacht: Die teilweise esstischgroßen Grundplatten für die Modelle, die er in einer Tischlerei anfertigen ließ, waren in einer Spezialhalterung über dem Bett befestigt. „Er hat unter dem Ding geschlafen“, sagt Reinhard Böhm. Für die Arbeit am Modell konnte die Platte dann aufs Bett herabgelassen werden. 

Reinhard Böhm erinnert sich auch an kuriose Aufträge, bei dem er dem Vater zur Hand ging: „Einmal haben wir das Modell für eine Schneckenfarm gebaut“, sagt er: „Für Weinbergschnecken.“ Auch das Foto eines Modells für einen Neubau für den Rundfunksender Conakry in der gleichnamigen Hauptstadt im westafrikanischen Guinea findet sich im Konvolut des Vaters. Die genauen Hintergründe kann der Sohn nicht mehr rekonstruieren.

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Reinhard Böhm, mittlerweile selbst Großvater von vier erwachsenen Enkelkindern, schlug trotz allem am Ende eine andere Karriere ein. Er arbeitete in der Wartung von Großrechnern wie dem Robotron 300, fuhr durch die Republik, wenn es irgendwo klemmte und die hauseigenen Techniker nicht mehr weiterwussten. Die Modelle gewordenen Potsdam-Visionen sind ihm aber bis heute teuer. Eine Erinnerung daran, dass es immer auch hätte anders kommen können.

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