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Neujahrsempfang in Potsdam: Die Würdigung einer anderen Perspektive

Der erste Neujahrsempfang von Oberbürgermeister Schubert: Kontrovers, sehr politisch – mit einem überraschenden Plädoyer, einem umstrittenen Eintrag und einer ernsten Rede.

Potsdam - Es weht ein neuer Wind in Potsdam. Manchem bläst er ins Gesicht, für andere ist er Rückenwind: Das blieb auf dem Neujahrsempfang der Landeshauptstadt am Freitagnachmittag im Nikolaisaal, traditionell ein Seismograph für Zustand und Befasstheit der Landeshauptstadt, kaum jemandem verborgen. Es ging kontrovers zu, aber auch nachdenklich, ernsthaft und sehr politisch.

Die Frage, die über vielem schwebte: Verschieben sich gerade die politischen Gewichte in der Stadt? Führt der neue Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) Potsdam geradewegs in ein rot-rotes Bündnis oder will er gar, wie es CDU-Kreischef Götz Friederich vermutete, „der Stadt eine Prägung geben, die sich im linken Spektrum“ befindet, „nicht in der Breite der Gesellschaft“? Besonders jene Christdemokraten, die nach der anfänglichen Boykott-Ansage der CDU-Stadtfraktion doch zum Empfang erschienen waren, wirkten angefasst. Auch Friederich, der sich zunächst in Sarkasmus ergoß, bevor er sich äußerte. Entzündet hatte sich alles an der Ehrung für Lutz Boede. Der Aktivist des linken Spektrums, politisch beheimatet bei der Wählergruppe Die Andere, ist Feindbild und Heldenfigur zugleich – für die einen so, für die anderen so. Oft protestierte er mit Gleichgesinnten mit extremen Aktionen gegen Entscheidungen der Stadtpolitik; besonders die Störung des Gottesdienstes zum Baustart der Garnisonkirche ist vielen ungut in Erinnerung.

Schubert hatte entschieden, dass sich zum Thema „Lebenslinien von 1989 bis heute“ neben der Grünen-Stadtverordneten und Schlösserstiftungskustodin Saskia Hüneke, der Kämpferin für Frauenrechte und Chefin des Autonomen Frauenzentrums Heiderose Gerber und dem seit der friedlichen Revolution besonnen für Landtagsschloss und Garnisonkirche engagierten Christian Rüss auch Boede ins Goldene Buch der Stadt eintragen soll. Dies sorgte nach den Turbulenzen der vergangenen Tage weiter für Kontroversen – und stillen Protest. Zwei Stadtverordnete des Bügerbündnisses, Carmen Klockow und Wolfhard Kirsch, sollen den Saal deshalb verlassen haben; andere seien erst gar nicht gekommen, sagte CDU-Kreischef Friederich. Doch es gab auch offen geäußerte Unterstützung für den Boede-Eintrag – und beim Akt selbst Applaus, keine Buh-Rufe.

Schubert, der die Laudatio auf Boede selbst hielt, erklärte seine Entscheidung so: „Die Demokratie lebt vom Widerstreit der Meinungen, von der Mehrheitseinung und der anderen Perspektive auf die Dinge.“ Boede habe immer versucht, „diese andere Perspektive einzunehmen“. In der DDR sei er dafür mit Haft im Stasi-Knast bestraft worden, in der Demokratie, für die er 1989 gekämpft habe, werde über sein Agieren kontrovers diskutiert; sein Engagement werde wertgeschätzt, auch wenn er die Grenzen des demokratischen Miteinanders „bis zum Bersten gedehnt hat“. Für Schubert geht es jedoch um noch mehr. Er wolle, dass die Potsdamer mehr miteinander statt übereinander reden, auch miteinander streiten in dem Bewusstsein, „dass der Widerstreit von Meinungen zu Potsdam gehört“ und die Demokratie stärke. Als er Boede bei Facebook eine Freundschafts-Anfrage gesendet habe, habe dieser mit einer Nachricht reagiert: „Das können wir unseren beiden Gruppen wohl derzeit nicht antun“, so Schubert. Aber genau das wolle er nicht mehr in Potsdam: „Ich will nicht mehr, dass wir in unseren Filterblasen bleiben“, so der Oberbürgermeister.

Kann aber zusammenführen, was zunächst spaltet? Die Antwort blieb offen.

Der große Bogen

Den großen Bogen zwischen der friedlichen Revolution und dem heutigen Zustand der Demokratie spannte Brandenburgs Ministerpräsident a.D. Matthias Platzeck in der Hauptrede des Empfangs. Platzeck, der aus dem Vorsitz der Kohlekommission nach Potsdam geeilt war und sofort nach der Rede wieder aufbrach, schlug ernste Töne an. Seit 1989 sei „Unerhörtes gemeinsam bewältigt worden“. Er glaube aber, dass „auch weiter noch Unerhörtes vor uns liegt“. Diese neuen Herausforderungen zu meistern, „wird allerdings nur gelingen, wenn wir uns die Welt nicht schönreden und sich nicht zu viele raushalten“. Auch er appellierte, kulturvoll zu streiten, auch auf Menschen zuzugehen, die „unbequem sind oder scheinen“. Er habe bei vielen Veranstaltungen bundesweit Menschen zugehört, „da überraschen einen Umfrage- oder Wahlergebnisse nicht mehr so sehr“. Es sei auch in Deutschland unruhiger geworden, Gewissheiten seien nicht mehr so gewiss, unklare Ängste vorhanden, besonders in Ostdeutschland. Platzeck kritisierte, es gebe zu viel Bürokratie, teils eine „Verrechtlichung der Demokratie“. Entscheidungsfindungen seien „nicht mehr nachvollziehbar, viel zu mühsam, viel zu langsam“. Da gehe der Demokratie „ihre Erotik verloren“. Der SPD-Politiker plädierte dafür, aus einem „alles regeln wollenden Staat wieder etwas mehr einen zulassenden zu machen“. Er bekam viel Applaus, viel Zustimmung.

Kein Demokratie-Projekt, aber doch eines, das Potsdam zusammenführen und einen soll, wollte Oberbürgermeister Schubert in seiner Rede anstoßen: die Wiedergewinnung des Stadtkanals, befahrbar von der Oberen Planitz bis zum Tiefen See. „Nicht, weil es mehr Touristen in die Stadt lockt“, so Schubert, „sondern weil es für uns Potsdamerinnen und Potsdamer einen Mehrwert hat“, ein Sehnsuchtsort sein könne, an dessen Wiederherstellung sich die Bürger beteiligen könnten wie beim Pfingstberg-Belvedere. Dazu brauche es ein realistisches und mehrheitlich akzeptiertes Konzept, so Schubert. Diesen Vorstoß quittierten die meisten wohl eher mit Überraschung. Taugt der Stadtkanal als identitätsstiftendes Projekt? Möglicherweise, wenn Christian Rüss sich dabei engagiert. Er wolle, sagte Rüss, vor allem Menschen zusammenbringen – und er lehne es ab, dass Menschen „mit undifferenzierten Schatten“ in eine extreme Ecke gestellt werden, wie bei der Garnisonkirche oft der Fall. Miteinander streiten, dabei „einfach mal die Perspektive wechseln“, dass sei existenziell für die Gesellschaft heute, so Rüss. Besonderheit am Rande: Das Goldene Buch, in das er sich eintrug, hatte die von ihm und seinem Bruder gegründete Druckerei Rüss 1991 hergestellt – und seine Mutter Caroline hatte es beschriftet. Ein emotionaler Moment also.

Letztendlich auch für Lutz Boede? Der war trotz des Eintrags ins Goldene Buch nicht versöhnlich gestimmt. Es wehe immer noch „ein Hauch Kalter Krieg durch den politischen Diskurs in Potsdam“, sagte er danach.

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