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In der Villa Urbig residierte während der Potsdamer Konferenz 1945 der frühere britische Premierminister Winston Churchill.

© Andreas Klaer

Neues Buch über Potsdamer Villenkolonie: Neubabelsberger Gesellschaftskunde

Potsdams früherer Denkmalschützer Jörg Limberg hat ein 470-Seiten-Buch über die einzigartige Villenkolonie geschrieben. Die Arbeiten an dem Werk zogen sich 25 Jahre lang hin.

Potsdam - Das Areal zwischen Schlosspark Babelsberg und Griebnitzsee gehört zum Potsdamer Forst, als Wilhelm Böckmann es erwirbt. Der Projektentwickler der künftigen Villenkolonie Neubabelsberg versichert, „dass Fabriken oder überhaupt Anlagen, durch welche üble Gerüche, schädliche Dünste, Rauch, Dampf oder Geräusche hervorgerufen werden, Irrenhäuser, Strafanstalten und Alles, was mit einem Villenterrain nicht in Einklang zu bringen ist, auf meinen Grundstücken nicht errichtet werden dürfen“. Das war 1873. 

Böckmanns Vision: Eine Sommerhaussiedlung für vermögende Berliner, die aus dem lauten und ungesunden Moloch Großstadt fliehen wollen. An den Stadtrand, ins Grüne. Die Stadt Potsdam spielte keine Rolle, Potsdam war weit. Aber ein Haus am See, Ruhe und dennoch den neu eröffneten Bahnhof vor der Tür – das alleine war erstrebenswert.

Drei Kilogramm, 470 Seiten, Hunderte Fotos

Die Geschichte der Villenkolonie Neubabelsberg kann man deshalb nur im Zusammenhang mit Berlin erzählen, sagt Potsdams ehemaliger Denkmalpfleger Jörg Limberg. Der Architekt und Denkmalexperte hat ein Buch über diese einmalige Siedlung geschrieben: „Neubabelsberg. Geschichte und Architektur einer Potsdamer Villenkolonie“, und dafür weit ausgeholt.

Drei Kilogramm, 470 Seiten, Hunderte Fotos und viel Arbeit, die sich über 25 Jahre zog, stecken darin. Fragt man Jörg Limberg, warum er das gemacht hat, sagt er knapp: „Es musste sein.“ Anfangs sollte Limberg für die Stadt rund um den Griebnitzsee die klassische Moderne erforschen, beispielsweise Bauten von Mies van der Rohe. 

Dafür grub er sich in Bauakten der Zeit vor 1945, darunter Tausende Blätter und Akten mit historischen Plänen, die eigentlich vernichtet werden sollten. „Die sollten wirklich in den Schredder“, sagt Limberg, und klingt noch heute überrascht. „Und beim Sortieren und Durchblättern habe ich gemerkt, dass es hier um noch viel mehr als nur Architektur und Baugeschichte geht.“ Das musste er aufschreiben.

Der frühere Denkmalpfleger Jörg Limberg.
Der frühere Denkmalpfleger Jörg Limberg.

© Ottmar Winter

Das Buch bildet die Siedlungsgeschichte von der Idee eines Herrn Böckmann über politische und verwaltungstechnische Entscheidungen bis zu Details einzelner Häuser, Gärten und den Schicksalen der Bewohner ab. Dafür hat Limberg neben Bauakten auch Grund- und Adressbücher, Sport- und Gesellschaftsmagazine und Ähnliches, was Auskunft über das gesellschaftliche Leben der Zeit gibt, durchforstet. 

Anwohner öffneten Limberg ihre Bibliotheken

„Im Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, dem Who is who der Wirtschaft, habe ich viel zu den Unternehmern gefunden.“ Zudem ist Limberg ein Auskenner vor Ort, er betreute jahrelang die unter Denkmalschutz gestellten Häuser und arbeitete eng mit den heutigen Eigentümern und Bewohnern zusammen. „Die Menschen erzählten gerne. Viele öffneten für mich ihre Bibliotheken.“

Wer Ende des 19. Jahrhunderts von Böckmann oder der späteren Terraingesellschaft Neu-Babelsberg eine Parzelle erwirbt, ist Banker oder Unternehmer, Verleger, Kunstsammler, Wissenschaftler, Jurist oder königlicher Verwaltungsbeamter. Paul Herpich hat ein großes Modehaus in Berlin und beauftragt Alfred Grenader mit dem Bau einer Villa am See, heute die sogenannte Stalin-Villa. Franz Urbig, Mitinhaber der Deutschen Bank, beauftragt Mies van der Rohe. Heute gehört das Anwesen, die sogenannte Churchill-Villa, dem SAP-Mitgründer und Mäzen Hasso Plattner.

Die sogenannte Stalin-Villa. Paul Herpich ließ das Haus 1910/11 erbauen.
Die sogenannte Stalin-Villa. Paul Herpich ließ das Haus 1910/11 erbauen.

© Sebastian Gabsch

Unbefestigte Straßen, unzuverlässige Wasserleitungen

Die Häuser der ersten Bebauungsphase sind allerdings eher bescheidene Sommerresidenzen. Die Infrastruktur entwickelt sich erst schrittweise. Anfangs gibt es nur unbefestigte Straßen, die Wasserleitungen sind unzuverlässig, der Druck in den höher gelegenen Häusern ist schwach, es gibt Klagen. Abwasser wird anfangs in Gruben gesammelt und abgepumpt. Gas und Strom gibt es erst ab 1910. Geschäfte gibt es gar keine. Zum Einkaufen fährt das Personal auf den Markt, ansonsten wird aus Berlin bezogen, was man braucht.

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Von Anfang an gibt es jedoch klare Vorstellungen, wie die Siedlung aussehen soll. Es gibt Richtlinien zum Bauen, zur Einfriedung, für die Gartengestaltung. Viele Häuser haben einen abgetrennten Küchengarten, manche einen modernen Tennisplatz. Man treibt Sport, leistet sich Pavillons, romantische Grotten am Seeufer und schicke Bootshäuser. Auf dem Griebnitzsee und Teltowkanal gibt es eine Dampfschifflinie, die wie ein Bus funktioniert, mitten auf dem See eine schwimmende Badeanstalt.

Aus Sommerhäusern werden Landhausvillen

Mit der Zeit werden aus den Sommerhäusern Landhausvillen. Es entwickelt sich eine Gemeinschaft. „Man war untereinander gut vernetzt, es gab Verbindungen durch Heiraten“, sagt Limberg. Man fühlte sich wohl unter seinesgleichen. Ja, und dann gab es auch Berühmtheiten wie manch Ufa-Filmstar wie Brigitte Horney und Lilian Harvey, die hier wohnten, aber das mache nur einen kleinen Teil der Bedeutung der Villenkolonie aus, sagt Limberg. Die Kolonie ist deutsche Gesellschaftskunde in einem viel größeren Rahmen.

Jörg Limberg: Neubabelsberg – Geschichte und Architektur einer Potsdamer Villenkolonie. Wernersche Verlagsgesellschaft, 472 Seiten, 78 Euro.
Jörg Limberg: Neubabelsberg – Geschichte und Architektur einer Potsdamer Villenkolonie. Wernersche Verlagsgesellschaft, 472 Seiten, 78 Euro.

© Ottmar Winter

Im zweiten Teil des Buches geht es um die einzelnen Häuser und ihre Erbauer: Wer kam, wer ging, wer war der Architekt, wie war man eingerichtet, wann wurde umgebaut, wer gestaltete den Garten? Das ist dank der vielen Fotos, private Aufnahmen von außen und innen, sowie historischer Pläne lebendige, greifbare Stadtgeschichte. Die Haus-Biografien geben Einblick in unbeschwerten Alltag, aber auch in die Zeit des Nationalsozialismus. Jüdische Eigentümer werden enteignet, viele gehen in die Emigration, einige wählen den Suizid. Die Villa Heidmann, die heute nicht mehr steht, wird 1940 jüdisches Altenheim: Potsdamer Juden müssen zwangsweise hierher umziehen, bevor sie 1943 deportiert werden.

Erst übernahmen sowjetische Besatzer, dann die DDR

In der unmittelbaren Nachkriegszeit wird das Gebiet Neubabelsberg von den sowjetischen Besatzern übernommen, Anwohner werden vertrieben. Die letzten Häuser werden erst 1954 von den Russen verlassen und der Stadt zurückgegeben. Es übernimmt die DDR, Griebnitzsee wird Grenzgebiet, 1961 kommt die Mauer am Seeufer. Der Bahnhof wird unerreichbar. Nach der Wende werden viele Grundstücke rückübertragen, dennoch wohnen heute kaum noch Nachfahren der früheren Familien hier.

Die Geschichte der Villensiedlung Neubabelsberg ist durch den Bezug zur innerdeutschen Grenze einzigartig. Baugeschichtlich vergleichbare Siedlungen sind die Berliner Villensiedlungen Alsen, Lichterfelde-West, Westend und Hirschgarten. Die umfangreiche Publikation samt ausführlichem Architektenverzeichnis dürfte somit nicht nur für Potsdamer interessant sein. Dennoch wurde nur eine Auflage von 800 Stück gedruckt. 

„Es ist eben ein Spezialthema, Verlage sind dafür schwer zu begeistern“, sagt der Autor. Ein wichtiges Ergebnis von Limbergs Forschungsarbeit und Tätigkeit als Denkmalschützer ist für jedermann sichtbar: Während in der DDR nur sechs Häuser unter Denkmalschutz standen, sind es heute 69, die Geschichtsinteressierte und Architekturfans nicht nur aus Potsdam und Berlin anziehen.

Am heutigen Mittwoch um 19 Uhr stellt Jörg Limberg das Buch im Potsdam Museum vor.

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