zum Hauptinhalt
Der Wirt einer nahe gelegenen Kneipe übergab den Ermittlern die Aufnahmen seiner Überwachungskamera. Gestochen scharf ist darauf derselbe Mann zu sehen, der mit Mohamed am Lageso an der Hand lief.

© dpa

Neue Details im Fall Elias: Trauerkarte an Elias' Familie: Ein Schuldeingeständnis von Silvio S.?

Silvio S., der mutmaßliche Mörder von Elias und Mohamed, hat eine Trauerkarte an die Familie von Elias geschickt. Angekommen ist sie aber nie. Und es bleiben viele offene Fragen.

Potsdam - Wenige Worte standen auf der Beileidskarte. Der Verfasser bekundete seine Trauer um den sechsjährigen Elias und schrieb dann: „Er ist erstickt.“ Unterschrieben war sie nicht. Abgeschickt hat die in einem Umschlag steckende Karte der mutmaßliche Mörder Silvio S., der seit Anfang November wegen Mordes an dem sechsjährigen Elias aus Potsdam und dem vierjährigen Mohamed aus Berlin in Untersuchungshaft sitzt. Adressat war die Familie des am 8. Juli 2015 entführten Jungen aus dem Potsdamer Stadtteil am Schlaatz.

Der 32-jährige Silvio S. soll die Karte nach PNN-Informationen wenige Wochen nach dem Verschwinden von Elias abgeschickt haben – nachdem er den Jungen mutmaßlich missbraucht und getötet hat. Besonders perfide: Als Absender war ein Bestattungsinstitut in Brandenburg (Havel) angegeben. Doch die Beileidskarte kam nie bei der Mutter von Elias an, Silvio S. hatte nicht die richtige Adresse. Die Post konnte den Umschlag nicht zustellen und schickte ihn zurück an den Absender. Anfang August 2015, also rund vier Wochen nach der Entführung von Elias, meldete sich das Bestattungsinstitut bei der Polizei und übergab den Ermittlern den Umschlag. Aufgegeben hatte S. die Beileidskarte, das zeigt der Poststempel, irgendwo im Land Brandenburg – jedenfalls nicht in der Stadt Brandenburg (Havel).

War es ein Schuldeingeständnis von Silvio S.?

Diese verstörenden Details aus den Ermittlungen um den Mord an den zwei Kindern werfen viele Fragen auf. War es ein Schuldeingeständnis von Silvio S.? Wollte er sich bei der Mutter für die Tat entschuldigen? Wollte er gefunden werden? Silvio S. hat sich dazu bisher nicht geäußert.

Allerdings wirft der Vorgang auch Fragen an die Polizei auf. Warum wurde der Öffentlichkeit stets vermittelt, dass es keine Hinweise auf ein Verbrechen gibt? Hätte Silvio S. möglicherweise früher festgenommen werden und damit der Mord an dem im Oktober von S. auf dem Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) entführten Mohamed verhindert werden können?

Offiziell wollten sich weder die Polizeidirektion West noch die Potsdamer Staatsanwaltschaft dazu äußern und verwiesen beide auf das laufende Ermittlungsverfahren. Der Anwalt des Beschuldigten, Mathias Noll, schwieg ebenfalls.

Elias verschwand spurlos

Um zu verstehen, was die Karte für den Fall bedeutet, hilft ein Blick auf die Situation, damals, Potsdam, Stadtteil Schlaatz im Sommer 2015. Elias ging am späten Nachmittag des 8. Juli am Inselhof zwischen den Neubaublocks aus DDR-Zeiten spielen, direkt vor der Wohnung der Mutter. Aus dem Fenster konnte sie ihn im Sandkasten sehen. Plötzlich aber war er nicht mehr da, einfach weg, irgendwann zwischen 17.30 und 18 Uhr verschwand Elias spurlos.

Die Polizei startete einen Großeinsatz. Tagelang durchkämmten Hunderte Beamte das Plattenbauviertel, Büsche und Spielplätze wurden abgesucht, Wiesen und Gärten überprüft. Im nahen Flüsschen Nuthe suchten Taucher nach der Kinderleiche, ein Schwimmkran baggerte den Schlamm vom Grund aus, schließlich wurde der Bach abgesenkt. Hubschrauber mit Wärmebildkameras wurden losgeschickt, Spurensuchhunde, die sogenannten Mantrailer, auf mögliche Fährten angesetzt. Aufnahmen von Überwachungskameras an Tankstellen und Supermärkten wurden ausgewertet. Alles ohne Erfolg.

Trauerkarte: Eine heiße Spur?

Dann tauchte die Beileidskarte auf. Es war Anfang August, da hatte die Polizei die Suche schon beendet, Technik und Einsatzkräfte abgezogen. Und unter hunderten Hinweisen, die bei der Soko „Schlaatz“ eingingen, ergab sich über Wochen keine heiße Spur.

Für die Ermittler war die Karte der erste Hinweis überhaupt darauf, was mit Elias geschehen sein könnte. Dass der Junge erstickt sein soll, wie der Verfasser vermerkte. Mögliches Täterwissen, nahmen die Kriminalbeamten an. Möglicherweise eine heiße Spur.

Drei Szenarien für die "Soko Schlaatz"

Den Ermittlern war klar: Mit jedem Tag, an dem Elias nicht auftaucht, sinkt die Chance, dass der Junge noch lebt. Bis dahin ging die Soko von drei Szenarien aus: Elias könnte weggelaufen sein, was die Ermittler nach Befragung von Familie und Freunden ausschlossen. Elias könnte verunglückt sein, wofür es aber keine Anhaltspunkte gab. Nachdem das gesamte Umfeld mit großem Aufwand durchkämmt wurde, erschien ein Unglück immer weniger wahrscheinlich. Die dritte Variante war ein Verbrechen.

Nur gab es dafür – so die Aussage der Polizei damals – keinerlei Hinweise, auch wenn es die Ermittler vermuteten. Gab es aber tatsächlich keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen? War es ein Fehler, dass sich die Soko „Schlaatz“ damals öffentlich festlegte?

Keine Spur zu dem Verfasser

Die Karte war das erste Konkrete, was die Ermittler nach Wochen ohne Erfolg, ohne Spur, ohne nützlichen Hinweis in der Hand hatten. Entsprechend wurde sie behandelt, das ganze kriminologische Programm lief an. Kriminaltechniker untersuchten Umschlag und Karte akribisch auf DNA-Spuren und Fingerabdrücke. Auch ein grafologisches Schriftgutachten wurde erstellt. Profiler prüften, was die Karte über den Täter sagt. Am Ende brachte das alles nichts. Eine Spur zu dem Verfasser? Fehlanzeige. Die gefundenen DNA-Spuren konnten niemandem zugeordnet werden, in der Datenbank gab es keinen Treffer. Und die Ermittler mussten davon ausgehen, dass auch ein Trittbrettfahrer die Karte verschickt haben könnte. Also doch kein Hinweis auf ein Verbrecher? Mit dem Fall befasste Fachleute berichten, dass die Ermittler alles Mögliche getan haben, sie aber den Hinweis nicht erhärten konnten. Die Spur verlief im Nichts. Der verkündete Stand damals, es habe keinen Hinweis auf ein Verbrecher gegeben, sei korrekt gewesen. Alles andere sei fachlich Unsinn.

Immerhin eines hat die Karte den Ermittlern dann doch gebracht, aber erst später, als Silvio S. festgenommen wurde. Der DNA-Abgleich ergab: Er hat die Karte abgeschickt.

Polizei hielt vorgetäuschte Entführung von Mohamed für möglich

Dass Silvio S. überhaupt gefasst wurde, war auch Glück. Es gab eine Videoaufzeichnung aus einer Überwachungskamera vor dem Berliner Lageso. Zu sehen ist, wie Mohamed am 1. Oktober gegen 14.40 Uhr an der Hand eines Mannes das Gelände verließ. Doch die Bilder waren unscharf. Und die Aufnahmen wurden erst mit tagelanger Verspätung ausgewertet und veröffentlicht, da die Beamten den falschen Informationen eines Wachmannes geglaubt haben. Zudem sollen die Beamten vorrangig gegen die Flüchtlingsfamilie selbst ermittelt und die Suchmaßnahmen nach dem Jungen vernachlässigt haben, wie der „Spiegel“ vor einer Woche berichtete. Die Ermittler vermuteten zunächst Familienstreitigkeiten und hielten es sogar für möglich, dass die Entführung des Jungen vorgetäuscht wurde, um die bevorstehende Abschiebung der bosnisch stämmigen Familie zu verhindern. Allerdings gab es auch Unstimmigkeiten in den Aussagen von Mohameds Mutter, denen die Ermittler nachgehen mussten.

Den ersten Schritt zum Durchbruch bei den Ermittlungen gab es erst drei Wochen nach dem Verschwinden des Vierjährigen. Der Wirt einer nahe gelegenen Kneipe übergab den Ermittlern die Aufnahmen seiner Überwachungskamera. Gestochen scharf ist darauf derselbe Mann zu sehen, der mit Mohamed am Lageso an der Hand lief. Die Polizei veröffentlichte die Bilder. Die Mutter von Silvio S. erkannte ihren Sohn und informierte Ende Oktober die Polizei. Da aber war Mohamed schon längst tot.

Zu Elias sagte Silvio S. fast nichts

Silvio S. gab in den ersten Vernehmungen an, dass er mit Stofftieren auf das Lageso-Gelände ging, um einigen der vielen dort wartenden Flüchtlingskindern eine Freude zu machen. Dort muss ihm zufällig der vierjährige Mohamed begegnet sein. Er reichte dem Kind eines der Stofftiere, nahm es an die Hand und ging mit ihm nach Hause, in die Wohnung im Haus seinen Eltern in Kaltenborn bei Jüterbog. Dort will er zunächst ferngesehen haben, dann schliefen beide ein. Am nächsten Tag missbrauchte er den Jungen und betäubte ihn dann mit Chloroform, weil er gequengelt habe. Danach erdrosselte er Mohamed. Die Leiche des Jungen versteckte er in einer Plastikwanne und schüttete Katzenstreu über den kleinen Körper.

Zu Elias sagte Silvio S. fast nichts. Er gestand aber, auch ihn getötet zu haben. Und er führte die Ermittler später zu einem Grundstück bei Luckenwalde, das er inmitten einer Gartensparte gepachtet hatte. Dort lag Elias Leiche vergraben. Nach den ersten Aussagen schweigt Silvio S. seither auf Anraten seines Anwalts.

Anklage noch im März?

Die Beileidskarte vom Sommer an die Mutter von Elias ist jetzt ein Beweisstück. Wann der Prozess gegen Silvio S. beginnt, ist noch unklar. Die Staatsanwaltschaft wartet auf ein gerichtspsychiatrisches Gutachten. Auch weitere DNA-Gutachten hat die Behörde angefordert. Rechtsanwalt Noll, der gemeinsam mit dem Berliner Juristen Uwe Springborn Silvio S. verteidigt, geht davon aus, dass die Anklage noch im März vorliegen wird. Der Prozess könnte im Sommer beginnen. Erst dann wird der Täter selbst die Frage beantworten können, warum er Elias und Mohamed grausam tötete, warum er die Beileidskarte schrieb. Wenn er denn aussagt.

Es gibt nicht wenige mit dem Fall befasste Ermittler, die Silvio S. – gelinde gesagt – beschränkt finden, sozial, emotional, vielleicht psychisch krank. Gutachter werden das entscheiden. Wie es scheint, war er nie das Kind und der Jugendliche, bei dem es wie bei den anderen lief. Er hatte kaum Freunde, mehrere Ausbildungen abgebrochen und sehr zurückgezogen gelebt, heißt es. Nachbarn beschrieben ihn als unscheinbar und fast ängstlich. Die Ermittler berichteten, sie hätten Silvio S., der zuletzt als Wachschützer arbeitete, als extrem gefühlskalt erlebt. Nur wenn das Gespräch auf seine Eltern zu sprechen kam, habe er Emotionen gezeigt.

Die eigene Mutter will von den Vorgängen in der Dachwohnung ihres Sohnes nichts mitbekommen haben. Auch dass er in Chatforen für Kinder verkehrte, Kinderpornos besessen haben soll und in seinem Schrank Jungen- und Mädchenkleidung hatte, bemerkte sie nicht. Sie äußerte sich nur einmal öffentlich im „Spiegel“. Bei ihrem Sohn die Sachen durchwühlen, das wollte sie nicht. Er sei schließlich erwachsen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false