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Anwalt Henry Timm vor Journalisten am Arbeitsgericht.

© Ottmar Winter

Nach Gewalttat im Oberlinhaus: Gekündigte Tatverdächtige verlangt Abfindung

Vor sechs Wochen sind in Potsdam vier schwerstbehinderte Menschen brutal getötet worden. Jetzt begann ein erstes Gerichtsverfahren. Dabei erhebt der Anwalt der beschuldigten Pflegerin Vorwürfe. 

Potsdam - Zu wenig Personal, zu hohe Belastung: Der Anwalt der Tatverdächtigen im Fall des Gewaltverbrechens im Oberlinhaus hat schwere Vorwürfe gegen den diakonischen Träger erhoben. Vor Journalisten sagte Jurist Henry Timm am Donnerstag, es habe eine dauerhafte Überlastung seiner Mandantin gegeben. „Bei 20 schwerstbehinderten Patienten waren teils nur zwei Pfleger tätig, teilweise nur Hilfskräfte. Das geht nicht.“ Daher habe sich die tatverdächtige Pflegerin auch mit mehr Medikamenten versorgt als von ihrer Ärztin verschrieben, so Timm. Das Oberlinhaus bezeichnete die Anschuldigungen in einer später veröffentlichten Mitteilung als falsch und auch haltlos.

Jurist Henry Timm.
Jurist Henry Timm.

© Ottmar Winter

Am Nachmittag war eine Verhandlung vor dem Arbeitsgericht beendet worden. Dort hatte Timm gegen die Kündigung seiner 52 Jahre alten Mandantin durch das Oberlinhaus geklagt. Der Anwalt sagte, der psychische Zustand der Frau hätte dem Arbeitgeber auffallen müssen.
Die Tatverdächtige soll Ende April vier Bewohner des Thusnelda-von-Saldern-Hauses getötet und ein fünftes Opfer schwer verletzt haben. Timm sagte, seiner Mandantin, die 32 Jahre im Oberlinhaus gearbeitet habe und die derzeit in der Psychiatrie sitzt, würden die Geschehnisse sehr leid tun, auch mit Blick auf die Angehörigen. Was sich am Tattag wirklich abspielte, könne er nicht nachvollziehen – seine Mandantin sei noch dabei, dies aufzuklären. Zu den Vorwürfen selbst habe sie sich bisher nicht geäußert, sagte er.
Es habe jedoch zwei Wochen vor dem Tatabend ein wichtiges Ereignis gegeben, zu dem Timm „aus taktischen Gründen“ nur so viel sagte: Seine Mandantin habe niemanden angegriffen und sei stark bei der Durchführung ihrer Arbeit beeinträchtigt gewesen. „Danach hätte die Anweisung erfolgen müssen, dass sie sich einem Arzt vorstellt oder Urlaub nimmt“, so Timm. Ein anderer Angestellter habe für sie einspringen müssen, sie sei dann zwei Tage später wieder zum Dienst erschienen. Ebenso erwähnte er Überlastungsanzeigen und ein früheres Gespräch mit dem Arbeitgeber über einen Wechsel aus der Pflege in die Forstwirtschaft. Trotz solcher Warnsignale sei nicht gehandelt worden, so Timm. Damit habe sich der Arbeitgeber insgesamt schadensersatzpflichtig gemacht.

Die Vorsitzende Richterin Birgit Fohrmann im Potsdamer Arbeitsgericht.
Die Vorsitzende Richterin Birgit Fohrmann im Potsdamer Arbeitsgericht.

© Ottmar Winter

"Sie wurde kaputtgespielt"

Daher hatte der Anwalt für seine Mandantin auch eine Abfindung verlangt. Er habe dem Oberlinhaus eine Lohnfortzahlung bis Ende des Jahres plus weitere Zahlungen in Gesamthöhe von 81.600 Euro vorgeschlagen, sagte er. Darin enthalten seien auch Schmerzensgeldforderungen. Denn der Arbeitgeber habe seine Fürsorgepflichten vernachlässigt. „Sie wurde kaputt gespielt.“ Der vom Land vorgegebene Personalschlüssel in der Einrichtung sei dauerhaft nicht eingehalten worden, auch zu Lasten anderer Kollegen und Patienten, sagte der Jurist.

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Seine Mandantin habe ihr Leben lang Medikamente nehmen müssen, auch solche mit „neurologischen Auswirkungen“. Der Grund: Sie sei ein dauerhaftes Opfer von Arzneimitteln, die ihr an der ehemaligen Charité zu DDR-Zeiten zwangsweise verabreicht worden seien. Sie sei deswegen in Therapie gewesen und hätte auch Klinikaufenthalte gehabt – dies sei dem Arbeitgeber bekannt gewesen, sagte Timm. Das Oberlinhaus hatte nach der Tat erklärt, bei der Frau habe es „keine Auffälligkeiten“ gegeben, auf die man hätte reagieren müssen – als Arbeitgeber erhalte man zugleich aber auch keine Diagnosen psychischer Erkrankungen. Auch am Donnerstag wies das Oberlinhaus die Vorwürfe zurück. So habe es keinerlei „Indikatoren und faktische Anhaltspunkte von Überlastung“ gegeben, betonte das Haus.

Oberlin-Anwalt Elmar Stollenwerk.
Oberlin-Anwalt Elmar Stollenwerk.

© Ottmar Winter

Oberlin-Anwalt Elmar Stollenwerk sagte dazu im Gericht, schon die Forderung einer Abfindung sei mit Blick auf die Hinterbliebenen der Toten unannehmbar. Es sei nur die sofortige Kündigung möglich gewesen. „Dass die Klägerin an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt und Hilfsbedürftige pflegt, ist doch nicht vorstellbar.“ Dem Anwalt der Frau warf Oberlin-Jurist Stollenwerk Ablenkungsmanöver vor. Eine Sprecherin des Unternehmens verwies ferner auf eine Vielzahl präventiver Maßnahmen, „um für das Wohlergehen unserer Mitarbeitenden zu sorgen“. Angebote zur psychologischen Unterstützung von Mitarbeitenden würden stetig mit externer Beratung weiterentwickelt, so die Sprecherin. Auch personell sei man gerade im Saldern-Haus gut aufgestellt, mit bescheinigten und zertifizierten Lehrgängen würden Angestellte regelmäßig in ihren Fähigkeiten weiterentwickelt.

Die Güteverhandlung über die Kündigung der Tatverdächtigen fand im Arbeitsgericht statt.
Die Güteverhandlung über die Kündigung der Tatverdächtigen fand im Arbeitsgericht statt.

© Ottmar Winter

Nun muss die Justiz beraten. Von der Staatsanwaltschaft hieß es, inzwischen habe die psychologische Begutachtung der Frau begonnen. Neue Ermittlungsergebnisse meldete man aber nicht. Im Arbeitsgericht erklärte Richterin Birgit Fohrmann, sie beabsichtige ausnahmsweise das Verfahren bis zum anstehenden Strafprozess auszusetzen, um dann die Kündigungsfrage zu klären. Beide Anwälte lehnten dies ab.

Oberlin-Anwalt Stollenwerk sagte, allein wegen der Vorwürfe sorge sich seine Mandantschaft um Rufschädigung. Und sollte die Kündigung doch unwirksam werden, müsste man umso mehr Geld an die Frau zurückzahlen. Wie es weitergeht, entscheidet nun Richterin Fohrmann.

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