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Blumen, Kerzen und Plakate vor dem Thusnelda-von-Saldern-Haus.

© dpa

Update

Nach Gewalttat am Oberlinhaus: Was über Opfer und Tatverdächtige bekannt ist

Nach dem Gewaltverbrechen im Potsdamer Oberlinhaus mit vier Toten ist die Tatwaffe noch nicht eindeutig identifiziert worden. Auch die Obduktionsergebnisse liegen noch nicht vor.

Potsdam - Es geht um eines der schwersten Verbrechen in der Region der vergangenen Jahrzehnte: Nach dem gewaltsamen Tod von vier Menschen mit Behinderungen im Thusnelda-von-Saldern-Haus des Oberlinvereins laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Das Amtsgericht Potsdam hatte eine 51 Jahre alte Pflege-Mitarbeiterin des Wohnheims, die unter dringendem Tatverdacht steht, in ein psychiatrisches Krankenhaus in Brandenburg/Havel eingewiesen. 

„Potsdam ist in dieser Woche von einer schweren Gewalttat erschüttert worden“, sagte Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) am Sonntag bei der digitalen Landesvertreterversammlung der Brandenburger SPD. „Es war für uns alle eine unbegreifliche Tat.“ 

Die PNN geben einen Überblick, was zu den Ereignissen bisher bekannt geworden ist - und welche Fragen offen sind.

Wer sind die Opfer?

Es handelt sich um behinderte Menschen im mittleren Alter, zwei 31 und 42 Jahre alte Frauen und zwei 35 und 56 Jahre alte Männer, zwei von ihnen lebten schon seit ihrer Kindheit in dem Heim. Die 42-Jährige ist bereits von einer engen Freundin öffentlich als Familienmutter beschrieben worden, die nach einem Autounfall und einem dabei erlittenen Schädel-Hirn-Trauma wieder langsam lernen sollte, zurück ins Leben zu finden. Zumindest wieder auf dem Weg der Besserung ist eine 43 Jahre alte Bewohnerin, die bei dem Verbrechen schwer verletzt wurde. „Sie ist notoperiert worden und es geht bergauf“, sagte die Sprecherin des Oberlinhauses, Andrea Benke, am Freitag. „Das ist für uns alle eine gute Nachricht.“ Immer noch stünden Mitarbeiter und Bewohner der Einrichtungen des Oberlinhauses unter Schock.

Wer ist die mutmaßliche Täterin?

Bekannt ist das Alter der 51-Jährigen - und dass sie schon viele Jahre im Oberlinhaus arbeitete. Zudem soll sie selbst einen behinderten Sohn haben. Die "Bild"-Zeitung berichtete am Freitag, die Frau habe seit ihrer Jugend Psychopharmaka einnehmen müssen. Inwiefern das zutrifft und im Oberlinhaus bekannt war, ist unklar. Die Frau sei vor der Tat nicht auffällig geworden, sagte Sprecherin Benke der Deutschen Presseagentur. „Alle Mitarbeiter nehmen regelmäßig an Supervisionen und Teamsitzungen teil“, erläuterte die Sprecherin. „Das ist zum Schutz unserer Klienten und Mitarbeiter unerlässlich.“ Sie soll die vier Menschen am Mittwochabend vorsätzlich getötet haben und danach zu ihrem fünf Kilometer entfernten Wohnhaus gefahren sein.  Dort soll sie ihrem Ehemann von der Tat berichtet haben - dann erst erfuhr davon nach PNN-Informationen auch die Polizei, ein Einsatzteam machte sich auf den Weg zum Tatort.

Was ist über den Tathergang bekannt?

Den Ermittlern dürfte sich ein Bild des Grauens geboten haben. Die Tatwaffe war nach übereinstimmenden Medienberichten ein Messer, die Opfer wiesen nach PNN-Informationen schwere Schnittverletzungen an der Kehle auf. Die Tatwaffe sei noch nicht eindeutig identifiziert worden, sagte der Leitende Potsdamer Oberstaatsanwalt Wilfried Lehmann am Sonntag den PNN. Der Polizeipsychologe Gerd Reimann sagte dem Sender rbb, gerade bei wenig Distanz zwischen Täter und Opfer, also wenn zum Beispiel mit einem Messer vorgegangen werden, sei das Vorgehen meist aggressiver als bei einem Angriff aus der Ferne: "Das Gewaltpotenzial ist dann sehr hoch." Zum genauen Tathergang und auch zum Ergebnis der Obduktionen hält sich die Staatsanwaltschaft bisher aus ermittlungstaktischen Gründen bedeckt. Bis die Obduktionsergebisse vorlägen, könne es noch einige Zeit dauern, so Staatsanwalt Lehmann am Sonntag. Auch die Zeugenbefragung werde sich hinziehen. 

Um die behinderten Bewohner, sofern möglich, zu befragen, müssen auch rechtliche Vorgaben eingehalten werden. Das Einverständnis des gesetzlich bestellten Betreuers muss eingeholt werden. Bei der Befragung dürften zudem, ähnlich wie bei Kindern als Zeugen, speziell geschulte Gutachter hinzugezogen werden.

Was ist über das Motiv bekannt?

Bisher nichts. Ein forenischer Psychiater soll die Schuldfähigkeit der Frau untersuchen, so die Staatsanwaltschaft. Die Tatverdächtige war am Donnerstag von einer Haftrichterin vorläufig in die Forensik der Psychiatrie in Brandenburg/Havel eingewiesen worden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hat sich die Frau bislang nicht zu den Vorwürfen geäußert - so ist auch ungeklärt, warum sie ausgerechnet diese fünf Menschen angriff und warum nicht noch andere. Ein Babelsberger Anwalt ist nach PNN-Informationen Rechtsbeistand der Frau. 

Was wird der Beschuldigten juristisch vorgeworfen?

Derzeit laut der Vorwurf Totschlag - das lässt sich im Zuge von Ermittlungen aber noch auf Mord ausweiten, falls Mordmerkmale wie niedere Beweggründe oder Heimtücke erfüllt sind. Wichtig ist: Nach Einschätzung der Haftrichterin lägen Gründe für eine eingeschränkte oder vollständige Schuldunfähigkeit vor, hatte Oberstaatsanwalt Wilfried Lehmann gesagt. Diese sogenannte Unzurechnungsfähigkeit bedeutet, dass jemand ohne Schuld handelt, wenn eine krankhafte seelische oder eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung vorliegt - und zum Beispiel wegen einer krankhaften Schizophrenie keine Steuerungsfähigkeit mehr vorhanden ist. Solche Täter:innen können zwar nicht bestraft werden, allerdings müssen sie - wenn sie eine weitere Gefahr für andere Menschen darstellen - in den Maßregelvollzug. Das muss dann vor dem Landgericht entschieden werden, dessen erste Strafkammer für solche Kapitaldelikte zuständig ist.

Wie laufen die Ermittlungen?

Angesichts der Tragweite des Falls sind viele Ermittler mit dem Fall befasst. Am Donnerstagabend hatte ein Polizeisprecher von einhundert Einsatzkräften der Polizeidirektion West und der Bereitschaftspolizei des Landes Brandenburg gesprochen, die im und um das Thusnelda-von-Saldern Haus zum Einsatz gekommen seien. Unter anderem war die Spurensicherung vor Ort, die Mordkommission ermittelt. "Zu den traurigen Aufgaben der Ermittler gehörte in diesem Fall auch die Überbringung der Todesnachrichten und die Verständigung der nächsten Angehörigen", so der Sprecher. Auch am Wochenende gingen die Ermittlungen zu dem Vorfall weiter. 

Welche Fragen stellen sich an das Oberlinhaus?

Vor allem ist in der Öffentlichkeit noch unklar, warum es der Verdächtigen am Mittwochabend ohne Weiteres möglich war, die vier Menschen zu töten und dann offensichtlich auch noch unbehelligt nach Hause zu gelangen, wo sie dann die Tat offenbarte. In der betroffenen Einrichtung, dem Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam-Babelsberg, leben nach Angaben des Trägers Oberlinhaus rund 60 Menschen, die von rund 80 Beschäftigten betreut werden. Wie viele an dem Tatabend zugegen waren, ist noch unklar. Auf die Frage eines rbb-Reporters, ob nur diese eine Mitarbeiterin im Dienst war, sagte Oberlin-Vorstand Matthias Fichtmüller am Donnerstagabend: "Nein." Es gebe feste Dienstpläne für die Arbeit in den verschiedenen Etagen des Hauses. Auch andere Kollegen seien noch am Tatabend vor Ort befragt wurden. Eine PNN-Anfrage an das Oberlinhaus zur genauen Zahl der eingesetzten Kollegen blieb bisher noch ohne Antwort.

Laut "Bild" lebten die Getöteten in der dritten Etage des Hauses in Einzelzimmern. Von Kennern des Pflegeberufs hieß es gegenüber den PNN am Freitagabend, in solchen Heimen würden einzelne Mitarbeiter routinemäßig für bestimmte Zimmer aufgeteilt - kontrolliert werde da nicht, man vertraue sich eben, so eine Tat könne man nicht vorhersehen.  "Das hat uns schon die Beine weggehauen, das muss man ganz deutlich sagen", hatte der theologische Vorstand des Oberlinhauses, Matthias Fichtmüller, am Tag nach der Tat erklärt. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob das Haus von den psychologischen Problemen der Tatverdächtigen hätte wissen können.

Oberlin-Vorstand Matthias Fichtmüller
Oberlin-Vorstand Matthias Fichtmüller

© Ottmar Winter

Das Oberlinhaus gehört zum Dachverband des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Eine Sprecherin sagte auf PNN-Nachfrage, die personelle Ausstattung für solche Heime verhandele der Träger direkt mit dem örtlichen Kostenträger, also der Stadt Potsdam. Eine PNN-Anfrage beantwortete das Rathaus mit Verweis auf die Heimaufsicht des Landes - unter Hoheit des Landesamts für Soziales und Versorgung.

Der Behörde übergeordnet ist das Landesgesundheitsministerium. Deren Sprecher Gabriel Hesse sagte, solche Wohnheime würden grundsätzlich einmal pro Jahr im Rahmen einer Regelüberwachung aufgesucht - das sei in der Pflegeabteilung des Saldern-Hauses zuletzt am 27. April der Fall gewesen, also erst am Dienstag, 24 Stunden vor der Gewalttat. Dabei sei auch das Thema „Umgang mit besonderen Belastungen während der Corona- Pandemie, Gewalt in der Pflege“ angesprochen worden. "Dabei wurden keine Vorfälle berichtet", so Hesse. 

Nach Einschätzung der Aufsicht sei der Träger auch in Bezug auf die nötige Begleitung der Mitarbeitenden "fachgerecht und angemessen aufgestellt". Unbeantwortet blieb die Frage, wie viele Betreuer in einer Nacht pro Bewohner eingesetzt werden müssten. Ob die Überprüfung zufällig kurz vor der Tat stattgefunden hat oder ob es doch Hinweise gab, jetzt eine Überprüfung vorzunehmen, blieb ab Sonntag unklar. Auch die Frage, ob die Aufsicht tatsächlich im Heim war oder die Überprüfung coronabedingt nur telefonisch bzw. durch die Einsicht von Unterlagen erfolgte, kann der Ministerium erst am Montag beantworten. 

Im Landesgesetz heißt es über das Wohnen mit Pflege und Betreuung nur allgemein, die Zahl der Beschäftigten in solchen Einrichtungen "muss zur Erbringung der Leistungen ausreichen". Unter anderem müssen die Träger aber auch einen  Stellenplan zur personellen Umsetzung ihrer Konzepte vorlegen. Der Ministeriumssprecher sagte auch:  „Das fürchterliche Gewaltverbrechen ist für alle ein sehr großer Schock. Ich warne aber vor voreiligen Schlüssen bei der Frage, was der Grund für diese unvorstellbare Tat war.“

Wie geht die Stadt Potsdam mit der Tat um?

Die Anteilnahme ist groß, auch am Freitag wurden viele Blumen am Tatort abgelegt. An einer Gedenkandacht in der Oberlinkirche hätten am Donnerstagabend neben Politikern auch zahlreiche Mitarbeiter, Angehörige der Opfer und Bewohner des Thusnelda-von-Saldern-Hauses teilgenommen. „Soweit die Corona-Regeln dies zuließen war die Kirche voll, einige Teilnehmer standen vor der Kirche“, sagte Sprecherin Benke. In zwei Wochen ist ein Gedenkgottesdienst in der Kirche geplant. Wohltuend sei eine große Welle der Solidarität, die das Oberlinhaus von Verbänden und vielen Privatleuten aus ganz Europa erfahre, sagte die Sprecherin. „Diese mentale Unterstützung ist für uns ungeheuer wichtig.“

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Was hat die Tat noch ausgelöst?

Ein sehr großes Medieninteresse. Über die Tat wird auch überregional berichtet, auch wegen der besonderen Umstände. Auch in den sozialen Netzwerken wird vielfach über die Tat debattiert, ob etwa ein überfordertes Gesundheitssystem solche Taten begünstigt oder das Problem von Gewalt gegen behinderte Menschen.  Es geht also auch um ganz grundsätzliche Fragen: Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte, Gewalt in der Pflege in Einrichtungen offen anzusprechen. „Wir brauchen auch in dieser Frage keine Tabuisierung, sondern eine Kultur des miteinander Redens und eine Kultur des Hinschauens“, sagte Vorstand Eugen Brysch. „Pflege macht Menschen nicht zum Täter.“ Es sei in der professionellen Pflege einfacher, im Team Gewalt anzusprechen oder Signale dafür aufzuspüren als in der Pflege daheim. Auch Vorgesetzte seien in der Pflicht, eine solche Kommunikation zu fördern, sagte die Patientenberaterin bei der Stiftung, Elke Simon. Auch anonyme Meldesysteme für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien sinnvoll, hier müsse die Heimleitung signalisieren, dass sie sich kümmern. „Das wichtigste ist ein respektvoller und wertschätzender Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern“, sagte Simon. Träger müssten die eindeutige Botschaft senden: wir dulden keine andere Behandlung. Am Freitag forderte schließlich der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland (ABiD), mehr auf die Entlastung der Mitarbeitern zu achten. „Sie sind in einer dauernden psychischen Ausnahmesituation“, sagte der Vorsitzende Marcus Graubner. Einrichtungsleitungen müssten mehr darauf achten, dass es zu keiner Überlastung der Beschäftigten komme - weder körperlich noch psychisch. „Es muss eine Möglichkeit der Betreuung für Mitarbeiter geben, beispielsweise eine Seelsorge“, so Graubner. Unabhängig von dem Potsdamer Vorfall müsse es gerade in der Corona-Pandemie verstärkt begleitende Maßnahmen geben, um Mitarbeiter, die „Außergewöhnliches leisten“, aufzufangen.

(mit Material von dpa/epd/AFP)

Richtigstellung: In einer früheren Fassung diese Artikels haben wir geschrieben: „Die „Bild“-Zeitung berichtete über die Täterin, (…) es habe (gegen sie) vor Jahren Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und nach einem Diebstahl in einem Getränkemarkt gegeben.“ Diese Behauptungen  zu möglichen früheren Straftaten sind unwahr. Die Redaktion.

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