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Der Sitz von Neverland in der Potsdamer Kurfürstenstraße. 

© Andreas Klaer

Nach Brandbrief der Chefin: Schrumpfkurs bei Potsdamer Sozialträger für Behinderte

Beim Potsdamer Sozialträger Neverland rumort es, in harschem Ton hat die Geschäftsführerin nun das Ende diverser Arbeitsverhältnisse angekündigt.

Potsdam - Einem in ganz Brandenburg aktiven Sozialträger im Bereich der Hilfen für behinderte Kinder droht ein Schrumpfkurs - und zwar unter äußerst bemerkenswerten Umständen. So sieht sich die Geschäftsführerin als Opfer eines Rachefeldzugs und weist alle Vorwürfe zu ihrem Agieren von sich. Eltern, die zum Beispiel über den Träger eine sogenannte Eingliederungshilfe für ihre behinderten Kindern erhalten, sind äußert verunsichert. Zuständige Behörden versichern allerdings: Es bestehe keine Gefahr.

Keine "eierlegende Wollmilchsau"

Es geht um den mit Hauptsitz in der Potsdamer Kurfürstenstraße ansässigen Träger Neverland gGmbH und dessen langjährige Chefin Kerstin Kempf-Steinau - mit Geschäftsbeziehungen zu diversen Kommunen und Landkreisen und etwas mehr als 100 Mitarbeitern. Deren Vorgesetzte Kempf-Steinau schickte vor wenigen Tagen an ihre Belegschaft eine E-Mail mit teils harschen Worten. Zunächst beklagte sie den Krankenstand, bat bei Fragen nur noch um E-Mail-Zusendungen statt "stundenlange Telefonate" und kritisierte, die Angestellten würden sich zum Beispiel durch frühere Teamleitungen "negativ beeinflussen lassen".

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Doch das habe nun ein Ende: Der Betrieb der Eingliederungshilfe im Unternehmen werde nun ab dem 24. Juni oder zum Ende der jeweiligen Kostenübernahme nicht mehr fortgeführt, so Kempf-Steinau. Das betreffe auch die Verträge mit den Angestellten. "Erwarten sie ihre Beendigungen ihrer Verträge zum ordentlichen Ende", schrieb die Chefin wortwörtlich. Und weiter: Sie sei nicht der Meinung, "dass ich als Unternehmer ständig für Millionen haften soll, Sozialversicherungsbeiträge und Steuern, ihre Löhne und ihr Fortkommen ihrer Familien, wenn ich von den Angestellten nur als eierlegende Wollmilchsau angesehen werde." So habe sie als Unternehmerin weder Anspruch auf Rente noch Arbeitslosengeld. Sie habe mit 40 ihren ersten Herzinfarkt gehabt - "dies werde ich gesundheitlich nicht weiter riskieren, für SIE!".

Ihr Anwalt bestätigte das Schreiben seiner Mandantin. Die zeitlich befristeten Verträge mit einer Reihe von Einzelfallhelfern würden auslaufen, die Kapazitäten der "sehr solide aufgestellten" Firma reduziert - im Jahresabschluss für Ende 2019 sind Gewinnrücklagen von 205.000 Euro ausgewiesen. Die Reduktion sei eine unternehmerische Entscheidung, auch bedingt durch den anhaltend hohen Krankenstand der Mitarbeiter.

"Wenn Träume fliegen lernen"?

Querelen rund um das Unternehmen, dessen Leitspruch "Wenn Träume fliegen lernen" lautet, gibt es schon länger. Immer wieder drehen diese sich um Geschäftsführerin Kempf-Steinau, die offenbar immer wieder Mitarbeiter gegen sich aufbringt. Bereits im März wurden den PNN anonym erste Hinweise zugesendet - unter anderem zu einem weißen BMW 840d Cabrio für mehr als 120.000 Euro, bestellt im Herbst 2019 als Firmenwagen für die gemeinnützige Firma, als Leasingmodell zunächst für drei Jahre à 1700 Euro im Monat. 

Kritik löste dabei vor allem ihre zur Schau getragene private Nutzung des Fahrzeugs aus, die nicht recht zu einem Sozialträger zu passen scheint. So posierte die Chefin mit ihrem Gatten, mit dem sie sich seit einiger Zeit auch via "Facebook" gegen die Corona-Beschränkungen wendet, mit dem durchaus repräsentativen Firmenwagen bei der gemeinsamen Hochzeit. Ihr Anwalt ließ allerdings schon im März mitteilen, für das Auto habe die Geschäftsführerin ihr Gehalt von 4500 auf 2500 Euro brutto reduziert. Daher widerspreche die Nutzung auch nicht der Gemeinnützigkeit, die bei Firmen mit besonderen Steuervorteilen verbunden ist.

Bei gemeinnützigen Firmen komme es bei den Lohn- und Arbeitsbedingungen für die Chefs auf die Gesamtausstattung an, sagte die Hamburger Steuerrechts-Professorin Birgit Weitemeyer den PNN: "Das muss angemessen sein." Dabei gehe es um den Vergleich zu anderen GmbHs aus der gleichen Branche, um den Umsatz oder die Mitarbeiterzahl.

Die Geschäftsführerin könnte sich sogar ein Gehalt bis zu 10.000 Euro auszahlen lassen, so der Anwalt von Kempf-Steinau in einem Schreiben von Ende März - sie verzichte aber darauf, "zugunsten des angestrebten Wachstums der gGmbH", welches mit dem besagten Ende der Mitarbeiterverträge freilich nun erst einmal zum Erliegen kommen dürfte.

Schlechte Bewertungen

Und gleichwohl wird im Internet schon vor Arbeit bei dem Träger gewarnt. In Bewertungsportalen für Arbeitgeber wie www.kununu.com gibt es zehn extrem negative Einträge - von 15 Meinungsäußerungen seit vergangenem März. Der Anwalt von Kempf-Steinau erklärte, solche Einträge könnten anonym eingestellt werden, der Wert der Behauptungen sei daher gering. Es habe den Anschein, dass Mehrfacheintragungen einer Person vorliegen würden. Der Anwalt verwies auch darauf, ein Teil der Informationen an die PNN stammten auch aus rechtswidrigen sowie strafbaren Handlungen und dienten dazu, seine Mandantin öffentlich zu diskreditieren. Dazu gebe es auch Strafverfahren.

Und es gibt eben die eingangs erwähnte E-Mail - und damit Sorgen bei betroffenen Eltern. Bei den PNN meldete sich zuletzt ein Paar aus dem Landkreis Elbe-Elster, das auch das Schreiben erhalten hatte - und nun um die Einzelfallhelferin für ihre schwerbehinderte Tochter bangt, die im übrigen auch seit Monaten von Neverland nicht mehr ihren gesamten Lohn erhalte. Das bestätigte auch die Helferin den PNN. Der Anwalt der Neverland-Chefin erklärte, "dass Löhne nicht vollständig gezahlt würden, ist unzutreffend". Und im Landkreis Elbe-Elster erklärte der dortige Sozialdezernent Roland Neumann auf PNN-Anfrage, man habe noch Vertragsbindungen bis Ende Juli. Leistungsstörungen seien nicht bekannt, der Träger wolle bis Vertragsende ordnungsgemäß arbeiten. Mit der Familie gemeinsam bemühe man sich nun um einen anderen Träger: "Die Eltern sind hier nicht auf sich gestellt."

Vom Landkreis Märkisch-Oderland berichtete ein Sprecher, bei den Mitarbeitern in dem Bereich der Behindertenhilfe stünden "die Telefone nicht mehr still". Man habe aber nun mit einem anderen Sozialträger eine neue Leistungsvereinbarung abgeschlossen. Der Fall verursache Stress und Extraarbeit, "aber signifikante Versorgungsprobleme" seien nicht zu befürchten. Man werde die Dienstleistungen – "soweit gewünscht" – mit dem vertrauten Personal in Anspruch nehmen können, versicherte auch ein Sprecher des Sozialministeriums. Und von der Stadt Potsdam sagte eine Sprecherin, der Träger habe Umstrukturierungen angekündigt - aber erklärt, die laufenden Verträge vereinbarungsgemäß zu erfüllen.

Die nun so in den Fokus geratene Firma ist noch relativ jung. Eingetragen wurde Neverland laut Handelsregister 2013, mit der 44-Jährigen als Geschäftsführerin, damals noch angesiedelt im Stadtteil Bornstedt. Danach wurden bald neue Zweigniederlassungen gemeldet, auch andere Firmen wie die Neverland Süd gGmbH mit dem gleichen Tätigkeitsfeld in Sachsen und weiteren Gewinnrücklagen in Höhe von mehreren 10 000 Euro. Und man hat Pläne - so sei ein zusätzlicher Standort in Schweden avisiert, so der Anwalt im März. Ausgewandert sei seine Mandantin aber dorthin nicht - auch so eine Behauptung, die gegenüber der PNN erhoben wurde.

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