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Ulrike Kegler leitete 25 Jahre die Potsdamer Montessori-Schule.

© Ottmar Winter

Montessori-Schule Potsdam: Schulleiterin Kegler: „Mich hat der Umbruch gereizt“

Am Donnerstag verabschiedet sich die Chefin der Montessori-Oberschule in den Ruhestand. Ulrike Kegler spricht im Interview über ihren Start nach der Wende, heimlich vergebene Zensuren und den Abschied vom Einzelkämpfertum. 

Von Katharina Wiechers

Frau Kegler, Sie wurden 1963 in Berlin-Kreuzberg eingeschult. Hätte Ihre Mutter Sie damals auf eine Reformschule geschickt, wenn es so etwas gegeben hätte?
Ja. Meine Mutter war, was die Schule betrifft, sehr auf meiner Seite. Ich habe ja sehr gelitten unter dem alten schulischen System am Gymnasium, aber sie hat mich nie unter Druck gesetzt.

Als Lehrerin waren Sie zunächst an einer Zehlendorfer Grundschule. Gab es einen bestimmten Auslöser, dort wegzugehen?
Eigentlich mehrere. Die Süd-Grundschule, an der ich damals gearbeitet habe, war ein wilhelminischer Bau: kalt, riesenhohe Räume. Es hallte und trotzdem war alles total still, die Kinder gingen brav in Zweierreihen auf dem Flur. Ich habe dem Schulleiter immer wieder Vorschläge gemacht, was man verändern könnte, aber er blockte ab. Eines Tages sagte er: Was wollen Sie eigentlich, Frau Kegler, die Schule läuft doch! Und da habe ich gewusst, hier läuft alles einfach nur so, wie es vor 100 Jahren war. Und dann war da noch diese Kollegin, die zu mir sagte, du musst doch nicht so viel machen, Ulrike, du wirst auch noch ruhig. Das war ein Schockerlebnis, denn ich war entflammt, ich wollte Lehrerin sein mit aller Freude, ich wollte etwas für die Schule machen.

Dann haben Sie ja erstmal eine Art Sabbatical gemacht und Ihre Montessori-Ausbildung absolviert. Wieso sind Sie danach ausgerechnet in Potsdam gelandet?
Ich wohnte in Berlin und ich wusste, dass in den neuen Bundesländern das Schulsystem neu aufgebaut wird. Ich habe einfach im Schulamt angerufen und kriegte sofort einen Termin. Dort habe ich gefragt, ob es Interesse an einer Montessori-Klasse irgendwo in Potsdam gibt – und die Schulrätin war dafür.

Wie wurden Sie in Potsdam empfangen?
Ich durfte vor dem Kollegium einen Vortrag halten und habe erstmal sehr kritische Blicke geerntet. 1991 waren die ehemaligen DDR-Bürger schon ein bisschen skeptisch, wenn Menschen aus dem Westen kamen. Aber drei oder vier Lehrerinnen saßen mit offenen Augen da und haben anschließend gesagt, sie wollen mitmachen.

Wie wurden Sie dann Schulleiterin?
In meinem zweiten Jahr hier ist der Schulleiter zurückgetreten. Die ganze Schule war in einem großen Umbruch und dem war er einfach nicht gewachsen. Ich fand ihn nett und war genauso erschüttert wie die Kollegen. Dann wurde ich gefragt, ob ich das machen will und ich habe es lange abgelehnt. Meine Kinder waren noch relativ klein – sieben, zehn und 13 – und ich dachte, das kann ich nicht schaffen.

Doch Sie wurden offenbar umgestimmt.
Ja, vor allem von meinem Mann. Der sagte: na klar, das schaffen wir. Ich hatte gute Bedingungen, weil meine Mutter und auch meine Schwiegermutter gerade Rentnerinnen geworden waren und uns viel geholfen haben, jeden Tag. Und es hat mich auch sehr gereizt, gerade dieser Umbruch. Auch, dass es eine Schule von der ersten bis zur zehnten Klasse war, fand ich extrem faszinierend. Das gab es ja gar nicht in West-Berlin.

Anfangs gab es allerdings auch viel Widerstand gegen Sie, einige Lehrer haben Umsetzungsanträge gestellt. Hat sie das persönlich auch verletzt?
Ich konnte immer gut verstehen, wenn Menschen gesagt haben, dass sie das nicht wollen und dann auch für sich die Konsequenz gezogen haben. Ich hatte mich ja nun dazu entschieden, hier die Verantwortung zu übernehmen und auch klar und offen gesagt, was ich vorhabe.

Würden Sie sagen, es gibt Menschen, die können das einfach nicht?
Ich würde eher sagen, es gibt Menschen, die wollen einfach nicht. Es gab hier Lehrerinnen und Lehrer, die extreme Schwierigkeiten hatten, aber die einen unglaublichen Aufwand betrieben haben, um da immer weiter reinzuwachsen. Und dann gab es aber auch diejenigen, die so getan haben als ob, die dann aber hinter verschlossener Tür die Tische wieder frontal ausgerichtet oder sogar Zensuren verteilt haben. Da musste ich natürlich was tun.

Was bedeutete das, etwas tun?
Alle hatten die Möglichkeit, Fortbildungen zu besuchen, und das haben auch sehr viele gemacht. Bei den meisten hat das auch zu einem starken pädagogischen Umdenken geführt. Es gab aber auch einige, die dort nur ihre Zeit abgesessen haben und es gab auch diejenigen, die gar nicht erst hingegangen sind. Ich habe darüber sehr offen mit den Kollegen gesprochen und ich habe auch Druck ausgeübt. Ich hatte hier ja ein Profil zu verteidigen. Wer hier war, musste sich zu einer anderen Form des Lernens und Unterrichtens und der Gemeinsamkeit bekennen. Da gab es viele Auseinandersetzungen, ich war keine einfache Schulleiterin. Das weiß man in Potsdam auch.

Spielte auch der Ost-West-Konflikt eine Rolle?
Ja, das war auch eine große Brücke, die da erstmal gebaut werden musste. Aber es bot auch viele Möglichkeiten. Das Untraditionelle kam mir natürlich sehr entgegen, es musste hier ja alles neu gemacht werden und das wollte ich ja.

Und darin waren sich alle einig, dass alles neu gemacht werden sollte? Es gab keine, die wollten, dass alles so bleibt wie es ist?
Oh doch. Hier gab es 1993 noch eine Art Fahnenappell. Ich bin da mit meiner Klasse nicht hingegangen, woraufhin die Sekretärin meinte, ich solle mich doch nicht so anstellen. Es gab einige Lehrer, die dachten, das ist eine Übung, die ist bald vorbei und dann gehen wir zum Alltag über. Aber es gab eben auch ganz viele andere, die diese historische Chance für sich gesehen haben und enorm an dem Umbau gearbeitet haben. Ich habe ja sehr viel Unterstützung bekommen, auch beim Schulträger, also der Stadt, im Schulamt, im Ministerium. Potsdam ist die einzige Stadt in Deutschland, die sich zwei staatliche Montessorischulen leistet. Das ist doch sensationell.

Ihre Lehrer verteilen keine Noten, es bleibt niemand sitzen. Warum brauchen Sie keine Sanktionen?
Wir wissen, dass sich das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern entspannt, wenn die Beziehung der Lehrerinnen und Lehrer zu den Schülern ehrlich und zugewandt ist. Und wenn die Kinder das Gefühl haben, sie gehören dazu und sie müssen nicht befürchten, dass sie ausgestoßen werden, zum Beispiel aufgrund von schlechten Zensuren. Bei der Beurteilung bewerten die Lehrer nicht den Lernprozess, also die berühmte Mitarbeit, sondern das Ergebnis. Wenn ich mich ständig in Acht nehmen muss, ob der Lehrer jetzt gesehen hat, dass ich mich gemeldet habe, kann ich ja nicht mehr kreativ denken.

Und wenn das Ergebnis falsch ist?
Dann muss es auch so gesagt werden.

Und wenn es immer falsch bleibt?
Dann muss man daran arbeiten, dass es besser wird, und zwar individuell und in der Schule, statt es den Eltern zu überlassen, die dann Unmengen von Geld für Nachhilfe ausgeben.

Wagen wir mal ein Gedankenexperiment: Wir stellen uns diese Schule vor, diese Räume, Sie, Ihre Kollegen, aber nicht die Schüler, die jetzt heute hier sind, sondern die Schüler aus einer Neuköllner “Brennpunktschule“. Was passiert?
Das wäre ein harter Durchgang, aber ich bin mir ganz sicher: wenn man Kinder differenziert arbeiten und sie praktische Erfahrungen machen lässt, dann entsteht auch bei schwierigen sozialen Zusammensetzungen ein Gemeinschaftsgefühl. Und das ist die Voraussetzung dafür, dass Schule funktioniert. Ich möchte nicht sagen, dass es nicht viel schwerer wäre. Aber es gibt Schulen, die beweisen, dass es funktionieren kann. Entscheidend ist die Kooperation unter den Lehrern, dass keiner mehr Einzelkämpfer ist. Der Beruf ist extrem anstrengend, wenn man täglich viele Stunden mit Kindern oder Jugendlichen zusammen ist und ständig unplanbare Entscheidungen treffen muss. Wenn man da keinen Reflektionsraum hat, um sich mit anderen, die ähnliche Erfahrungen machen, auszutauschen, ist man extrem belastet. Dann kommt es zu Abwehrhaltungen, dann kann man abstumpfen.

Am Donnerstag ist Ihr letzter Tag. Werden Sie dann endlich ruhig, wie es Ihnen schon vor 25 Jahren vorhergesagt wurde?
Nein. Ich werde keine Kreuzfahrt machen, ich werde mich auch nicht mehr als bisher um meine Enkelkinder kümmern und ich werde auch nicht den Keller aufräumen. Stattdessen möchte ich längere Zeit in verschiedenen anderen Ländern leben, zuerst in Griechenland, dann in Afrika und wie es dann weitergeht, werden wir sehen. Natürlich werde ich auch weiter Fortbildungen leiten und mit meinem aktuellen Buch unterwegs sein. Aber ich werde aus diesem Zeitrhythmus aussteigen. Ich werde ein ganz anderes Leben führen.

Die Fragen stellte Katharina Wiechers

ZUR PERSON: Ulrike Kegler (63) ist in West-Berlin zur Schule gegangen und hat in Oldenburg studiert. 1982 kehrte sie nach Berlin zurück und lehrte zunächst an zwei Grundschulen in Zehlendorf. 1993 kam sie nach Potsdam und gründete die erste Montessori-Klasse der Stadt, zwei Jahre später wurde sie Schulleiterin. Nach vielen Jahren in Potsdam wohnt sie mittlerweile wieder in Berlin. Sie und ihr Mann haben drei erwachsene Söhne und zwei Enkelkinder. Ihr Nachfolger nach 25 Jahren an der Spitze der Montessori-Oberschule in Potsdam-West wird Sebastian Raphael, bislang Lehrer an der „Leonardo Da Vinci“-Schule.

Foto: Ottmar Winter

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