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Beklemmende Stille. Eine Frau hält am Sonntag kurz an der Treppe zum Bürgerhaus am Schlaatz inne und gedenkt der toten Kinder Mohamed und Elias. Seit Freitag wuchs die Zahl der Kerzen und Kuscheltiere ständig an. Am Sonntag bestätigte die Polizei, dass der im Juli spurlos verschwundene sechsjährige Junge tot ist.

© Andreas Klaer

Mohamed und Elias: Entsetzen in Potsdam und Berlin: Warum?

Wie in Zeitlupe läuft das Leben im Stadtteil Schlaatz weiter. Nachdem der Tod des sechsjährigen Elias jetzt bestätigt wurde, weicht der erste Schock bei vielen Anwohnern einer tiefen Trauer. Und sie stellen sich alle nur eine Frage.

Von
  • Matthias Matern
  • Sandra Dassler

Potsdam - Blumen stapeln sich auf der kleinen Treppe vor dem Bürgerhaus, ein Kranz mit einer weißen Schleife daran liegt am Geländer. „In Gedenken an Elias – brennen am Sonntag noch viele rote Kerzen. „Warum?“ prangt in großen Lettern auf einem Schild vor dem Bild des sechsjährigen Elias. Die Frage nach dem Warum stellen sich wahrscheinlich viele. Nun gibt es zumindest in einem Punkt Gewissheit. Elias ist tot.

Am Schlaatz ist der Schock tiefer Traurigkeit gewichen. Eigentlich wäre am Sonntag ein ideales Wetter für einen Herbstspaziergang. Die Sonne scheint, es ist warm. Doch die Straßen im Viertel sind auffallend leer, kein Kind tobt auf den vielen Spielplätzen herum. Immer wieder aber kommen Leute am Bürgerhaus vorbei, legen noch ein Plüschtier oder eine Blume ab – dort, wo am Freitagabend rund 150 Menschen der ermordeten Jungen Mohamed und Elias gedachten, und auch der fünfjährigen Inga, die in Sachsen-Anhalt noch immer vermisst wird.

"Ruhe in Frieden, mein kleiner Stern"

Die drei Plakate mit den Fotos von Elias, Mohamed und Inga stehen nun seit Freitag auf der Treppe vor dem Bürgerhaus. Zwei sind mit einem schwarzen Rand versehen, das des Mädchens nicht. Einige Anwohner haben Nachrichten hinterlassen. „Ruhe in Frieden, mein kleiner Stern“ oder „Im Herz sollst Du immer bei uns sein“.

„Das ist beklemmend“, sagt Hans Eschenbach, der mit seiner Frau Barbara am Sonntag aus Berlin nach Potsdam kam, um der Kinder zu gedenken. „Das ist so eine tolle Gegend. Hier kann doch eigentlich nichts passieren“, sagt seine Frau. Sie hoffe nur, dass es für die Eltern jetzt „eine Erleichterung ist, dass sie wissen, was passiert ist“. Dann gehen sie schweigend weiter. Ein Windstoß bläst einen Blumenstrauß mit Nelken um.

Am Schlaatz vergisst keiner schnell

Wie am Freitag gab es auch am gestrigen Sonntagabend eine spontane Gedenkveranstaltung im Stadtteil Schlaatz. Einige Dutzend Menschen standen erneut in der Dunkelheit vor der Treppe am Bürgerhaus, zündeten Kerzen an oder legten Blumen und Stofftiere ab. Es waren teilweise die Menschen dort, die sich bereits zwei Tage zuvor trauernd in den Armen gelegen hatten. Hier vergisst keiner schnell.

Anja Berger, eine gute Freundin der Mutter von Elias und ihres Lebensgefährten, hatte am Freitag sichtlich bewegt zu den rund 150 Trauernden gesprochen – auch im Namen der Familie von Elias. Sie danke allen, die mitgeholfen hätten, zu suchen. „Wir und die Familie sind euch unendlich dankbar dafür. Ihr habt uns geholfen, jeder von euch.“ Nun sei es leider Gewissheit, dass man Elias nicht mehr in die Arme schließen könne. Immer wieder hielten sich Trauernde aneinander fest. Vier Notfallseelsorger des Landes Brandenburg standen bereit, um zu helfen. Sie hätten viel zu tun gehabt, sagte David Krause, einer der Mitorganisatoren bei der Suche nach Elias im Juli.

Fotos von Elias im Sandkasten

Eine ältere Frau schaute am Freitagabend gedankenverloren auf das Lichtermeer der Kerzen. Die meisten Anwesenden waren bei der Suche nach dem Jungen aktiv dabei. Sie habe damals im Juli mitgeholfen und für die freiwilligen Helfer Brötchen geschmiert und Kaffee gekocht, sagte sie. Die meisten Anwesenden waren bei der Suche nach dem Jungen aktiv dabei und durchkämmten im Sommer gemeinsam mit der Polizei die Plattenbausiedlung tagelang ergebnislos. Jetzt haben sie Gewissheit, immerhin.

Am Ort, an dem Elias zuletzt gesehen worden war – im Sandkasten im Wohnblock Inselhof –, lagen am Sonntag ebenfalls Blumen, in einem Halbkreis darum waren Fotos von Elias hingelegt worden. Dort hatte er vor der elterlichen Wohnung gespielt. Als ihn die Mutter zum Essen rufen wollte, war er nicht mehr da.

Irgendwie gehofft, dass der Junge noch lebt

Rätselhaft ist für die Ermittler bis heute, dass niemand etwas gesehen haben will. Es war Sommer, viele Fenster gingen zum Hof. „Das ist der traurigste Feiertag meines Lebens“, sagte am Samstag ein Potsdamer Polizist, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte: „Ich war damals wie viele meiner Kollegen an der Suche nach Elias beteiligt – und irgendwie haben wir immer noch gehofft, dass der Junge lebt.“

„Was geht in einem solchen Menschen vor? Wie kann man einem kleinen Jungen so etwas nur antun?“, fragen sich die Schlaatzer. Er habe selbst eine kleine Tochter, sagte ein früherer Nachbar von Elias und dessen Mutter, die nach dem Verschwinden ihres Sohnes aus dem Stadtteil weggezogen ist, den PNN. „Wir lassen die Kinder nicht mehr aus den Augen.“

Auf die Frage, wie man das seinen eigenen Kindern erklären könne, zuckte ein anderer junger Vater auf einem Spielplatz in der Nähe des Schlaatzer Supermarktes nur mit den Schultern. Sein Sohn sei ebenfalls sechs Jahre alt, wie Elias. „Was machst du, wenn dich ein Fremder anspricht?“, fragte er seinen Kleinen. „Alles Böse“, antwortete der Junge selbstbewusst. Kratzen, beißen, schlagen, wegrennen.

Potsdam trauert

Schlimm müssen die vergangenen Wochen auch für Anja Berger, die Freundin der Mutter von Elias, gewesen sein. Sie habe die Verzweiflung der Eltern hautnah miterlebt. Sie habe der Familie wochenlang beigestanden, sie unterstützt und die Suchaktionen der Freiwilligen auf sozialen Netzwerken wie Facebook mit koordiniert. Am Freitag sei sie gerade an ihrem Arbeitsplatz gewesen, als sie davon hörte, dass Elias wohl tot ist. „Ich habe die Zeit und alles um mich herum vergessen. Ich musste weinen, fing an zu zittern“, sagte sie. Dann habe sie den Lebenspartner der Mutter von Elias angerufen. „Der wusste noch nichts. Das war schlimm.“ Aber immerhin besser, als wenn er es über die Medien erfahren hätte, sagte Berger.

Nicht nur am Schlaatz, auch im Stadtzentrum trauern die Menschen um Elias und den Flüchtlingsjungen Mohamed, den der 32-jährige Silvio S. mutmaßlich Anfang Oktober in Berlin entführt, dann missbraucht und getötet hat. Seit Freitagmittag ist in der Nikolaikirche am Alten Markt die Möglichkeit für ein stilles Gedenken an die beiden Kinder eingerichtet. Zahlreiche Kerzen wurden seitdem für sie angezündet. Die Stadt Potsdam plant in den kommenden Tagen eine Gedenkveranstaltung, Genaues stand am Sonntag noch nicht fest.

Trauer um Mohamed am Lageso in Berlin

In Berlin trauern die Menschen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Moabit, wo der vierjährige Mohamed von seinem späteren Mörder mitgenommen wurde. Ein stetiger Strom von Passanten und Flüchtlingen hält am Samstag an der Gedenkstelle inne: Einige schauen einfach nur fassungslos auf die Kinderbilder, andere legen Blumen ab oder zünden erloschene Kerzen wieder an. Azema, eine Freundin der Mutter des kleinen Mohamed, ist mit ihren vier Kindern dorthin gekommen. Mohameds Mutter weine nur noch, sagt Azema.

Wenn das Grauen überhaupt etwas Gutes in sich tragen kann, dann ist es vielleicht der Zusammenhalt, der jetzt zu spüren ist. Darauf spielte auch Anja Berger, die Freundin der Familie von Elias, in ihrer kurzen Rede vor den Trauernden am Freitagabend am Schlaatz an. Was sie persönlich aus den vergangenen Monaten seit dem Verschwinden des Jungen mitnehme, sei, dass man Zusammenhalt und Hilfe finden könne, auch bei Fremden. „Und dass man jeden Tag mit seinen Liebsten genießen sollte, als wäre er der letzte.“

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