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Landeshauptstadt: Letten, Russen, Deutsche

Der Potsdamer Reisejournalist Jochen Könnecke ist Stadtschreiber der Kulturhauptstadt Riga

Von seiner Wohnung in der siebenten Etage eines Blocks aus Sowjetzeiten hat Jochen Könnecke das ganze Riga im Blick: Die Jugendstilstraßenzüge und die Altstadt mit den Backsteinkirchtürmen, den Hafen und den dreibeinigen Fernsehturm aus den 1980er-Jahren, alte Plattenbau-Viertel und die verglasten Geschäftshochhäuser, die nach der Jahrtausendwende am Ufer der Daugava entstanden sind. Seit Juni wohnt der Potsdamer Reisejournalist in der lettischen Hauptstadt und berichtet als Stadtschreiber in einem Internettagebuch über seine Begegnungen und Beobachtungen in Europas Kulturhauptstadt 2014. Der 46-Jährige hat das Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa bekommen.

„Ich habe mich einfach beworben“, erzählt Könnecke den PNN am Telefon. Das Baltikum ist für den Babelsberger kein Neuland – und er hat auch eine private Beziehung zur lettischen Hauptstadt: „Meine Frau kommt von dort“, sagt er. Könnecke hat für verschiedene Reisemagazine über Lettland geschrieben, 2005 erschien sein Reisetaschenbuch. 1999 war er zum ersten Mal in Riga.

Aber das Riga, das er damals kennenlernte, unterscheidet sich von dem, auf das er jetzt trifft. „Damals gab es keine besonders entwickelte Zivilgesellschaft, die meisten Leute haben sich nur um ihre eigenen vier Wände gekümmert“, erinnert sich Könnecke. Doch das verändere sich langsam. Die Wirtschaftskrise 2008, die Lettland hart traf, haben junge Künstler genutzt, erzählt er: Leer stehende Häuserkomplexe wurden zu kreativen Vierteln mit Atelier- und Ausstellungsräumen, aber auch Suppenküchen. Entstanden sind dabei Projekte wie das Kunstfestival „Survival Kit“ – zu Deutsch: Überlebenspaket. „Die Künstler haben aus der Not eine Tugend gemacht“, sagt Jochen Könnecke. Heute genieße die so gewachsene Szene öffentlich Anerkennung – und ist beispielsweise auch im offiziellen Kulturhauptstadtprogramm vertreten.

Aber nicht nur Künstler entdecken die Stadt wieder für sich: Jochen Könnecke traf auch Letten, die sich beispielsweise um die Verschönerung der heruntergekommenen Hinterhöfe in den Vorstädten kümmern. So wie die Schneiderin Baiba Giptere, die mit einigen engagierten Nachbarn einen Verein mit diesem Ziel gegründet hat. „Da ist ein Bewusstsein für die Umgebung entstanden, die Rigenser lernen wieder, etwas in Eigeninitiative zu tun“, sagt Jochen Könnecke.

Über seine Begegnungen schreibt er regelmäßig ein Internet-Tagebuch – das ist eine der wenigen festen Aufgaben, die er als Stadtschreiber hat. Sein Blog wird auch ins Lettische übersetzt. Dem Deutschen Kulturforum mit Sitz in Potsdam, das ein Stadtschreiber-Stipendium für die jeweilige Kulturhauptstadt schon seit 2009 auslobt, geht es darum, sich auseinanderzusetzen mit der Geschichte jener Gebiete in Osteuropa, in denen früher Deutsche gelebt haben – und den Dialog mit den heutigen Bewohnern zu fördern.

Könnecke sucht vor allem Kontakt zu normalen Rigensern, schreibt über deren Alltag. Denkbar, dass die Texte später auch in Buchform erscheinen, sagt er: „Das könnte für Deutsche, die nach Riga kommen, interessant sein.“ Konkretere Pläne gibt es aber noch nicht.

Dass Lettland jahrhundertelang von Deutschen dominiert wurde, dass Leute wie der Dichter Johann Gottfried von Herder oder der Komponist Siegfried Wagner in Riga arbeiteten, sei heutigen Letten kaum noch bewusst, hat Jochen Könnecke festgestellt. „Sie beschäftigen sich vor allem mit Russland“, sagt er. Unter sowjetischer Besatzung sind in den 1940er- und 1950er-Jahren Schätzungen zufolge insgesamt fast 200 000 Letten in sibirische Lager deportiert worden – als Hitlers Wehrmacht in Lettland einmarschierte, wurde das von vielen zunächst sogar als Befreiung empfunden. Der folgende Holocaust an Lettlands Juden unter deutscher Regie wird erst seit der Unabhängigkeit 1991 aufgearbeitet.

Russen und Letten – das Zusammenleben der beiden Gruppen in dem Land, das gut doppelt so groß wie Brandenburg ist, aber nur knapp zwei Millionen Einwohner zählt, ist nicht immer konfliktfrei. Russischsprachige Letten leben vor allem in den Städten. Viele haben nicht einmal einen lettischen Pass – denn den bekommen russischsprachige Bewohner, die vor der Wende geboren wurden, nur, wenn sie einen Sprachtest bestehen. „Viele finden das ungerecht“, erzählt Könnecke.

Russlands aggressives Vorgehen in der Ukraine sei in den vergangenen Monaten auch in Riga Thema gewesen. Zwar gebe es unter den Russen viele Putin-Befürworter – aber dass Russland die frühere Sowjetrepublik wieder besetzen könnte, wünschen sich auch die russischstämmigen Letten nicht, meint er. Denn sie wissen, dass es ihnen in Lettland besser geht, als es ihnen unter russischer Führung gehen würde: „Sie haben Reisefreiheit, den Euro“, zählt Könnecke auf: „Und niemand will Krieg.“

http://riga2014.org/stadtschreiber

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