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Lenins Erbe. In dem historischen Eisenbahnwaggon war bis 1990 ein Leninmuseum eingerichtet. Seit 2005 steht er in Potsdam.

© Andreas Klaer

"Leninwaggon" in Potsdam: Per Zug zur Revolution

In Sassnitz erinnerte der „Leninwaggon“ bis zum Mauerfall an die Bahnreise der russischen Revolutionäre durchs Deutsche Kaiserreich 1917. Heute steht der Wagen in Potsdam.

Vielleicht ist es die berühmteste Eisenbahnfahrt der Weltgeschichte. Im April 1917 machte sich der russische Sozialist Wladimir Iljitsch Lenin mit seinen Mitstreitern aus dem Exil in der Schweiz auf in Richtung Heimat. Zar Nikolaus II. hatte nach einem Aufstand im März abgedankt, eine provisorische Regierung war angetreten, die Sozialisten sahen ihre politische Chance. Die Fahrt durch das mit Russland verfeindete Deutsche Kaiserreich mitten im Ersten Weltkrieg erforderte nicht nur diplomatisches Geschick und Verhandlungen hinter den Kulissen. Sie hatte auch gravierende Folgen: Lenin und die Bolschewiki übernahmen am 7. November 1917 – nach der alten, julianischen Zeit der 25. Oktober – gewaltsam die Macht.

„Die Revolution wurde später als Beginn der sozialistischen Gesellschaftsordnung verherrlicht, so auch in der DDR“, sagt Ursula Bartelsheim, Historikerin am Museum der Deutschen Bahn (DB) in Nürnberg. In Sassnitz, damals der letzten deutschen Station für die Revolutionäre, wurde 1977 ein kleines Leninmuseum zur Erinnerung eingerichtet – in einem restaurierten historischen Reisewaggon. Gelandet ist der sogenannte Leninwaggon nach dem Mauerfall über Umwege in Potsdam, wo er bis heute im Kaiserbahnhof am Park Sanssouci steht.

In dem Waggon werden heute Führungskräfte der Bahn geschult

An Lenin erinnert im Kaiserbahnhof, der von der DB Akademie zur Weiterbildung von Führungskräften genutzt wird, nichts: Das Äußere des Waggons wurde denkmalgerecht restauriert, im Inneren sind zwei Seminarräume untergebracht – Mobiliar und Technik sind modern, es gibt ein Whiteboard, Textmarker und neonfarbene Klebezettel. In Gebrauch ist der Wagen, einer von drei historischen Waggons vor Ort, fast täglich für Seminare oder Tagungen, sagt die Standortleiterin Ricarda Loboda. Und manchmal auch für besondere Veranstaltungen: Wie im Oktober 2015, als das deutsch-russische Diskussionsforum „Petersburger Dialog“ im Kaiserbahnhof zusammenkam. Die Öffentlichkeit bekommt nur an den seltenen Tagen der offenen Tür Zutritt. Aber wer mit dem Zug am Bahnhof Park Sanssouci hält, kann durch die Fenster der Wagenhalle einen Blick auf den „Leninwaggon“ erhaschen.

Der originale Waggon von 1917 ist es nicht, betont die Historikerin Bartelsmann. Die DDR-Reichsbahn hatte seinerzeit einen Wagen ähnlicher Bauart, Baujahr 1912, gefunden und ihn im Reichsbahnausbesserungswerk Potsdam zum Museumswagen umbauen lassen. Zur Eröffnung der Gedenkstätte in Sassnitz am 25. Oktober 1977 kam sogar der sowjetische Außenminister Pjotr Abrassimow, wie sich der langjährige Museumschef Hans Alber später im Gespräch mit der Ostsee-Zeitung erinnerte.

Ein Kreidestrich als Grenze

Das Museum zeigte Fotos und Dokumente zu Lenins Eisenbahnfahrt, bei der es einige Eigenheiten gab: So hatte man Revolutionären Exterritorialität zugesichert. Die beiden Eisenbahnwagen galten also als „russisches Territorium“ – mit einer Grenzmarkierung per Kreidestrich, die die Reisenden bei der Fahrt von Gottmadingen über Berlin nach Sassnitz auch nicht übertreten durften, wie Ursula Bartelsheim erläutert. Von der Ostseehafenstadt ging es weiter mit der Fähre nach Schweden und von dort über Nordfinnland in die russische Hauptstadt Petrograd, das heutige St. Petersburg. Dort kam es wenige Monate später zur Oktoberrevolution.

Rund 190 000 Gäste haben den „Leninwaggon“ in Sassnitz besichtigt, wie Museumschef Alber schätzte. Vielleicht nicht immer ganz freiwillig, denn der Besuch war zum Beispiel für Schüler aus der Region Pflicht, wie Zeitzeugen berichten. Und das ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass das Museum nach dem Mauerfall so schnell wie möglich verschwinden sollte. Genauso wie die Leninbüste vom Lenindenkmal, das vor der Leninschule auf dem Leninplatz stand. Zwischenzeitlich war eine Schenkung des Waggons an die Sowjetunion geplant, auch die schwedische Stadt Trelleborg hatte ihr Interesse angemeldet, wie aus Zeitungsberichten vom Sommer 1990 hervorgeht. Im September 1990 wurde das Museum geschlossen.

Nach 1989 sollte das Museum in Sassnitz schnell verschwinden

Der Ausstellungswagen ist dann zunächst an das Bahnmuseum in Nürnberg gekommen, wo er gut zehn Jahre lang auf dem Freigelände zu sehen war, wie die Historikerin Bartelsheim berichtet. Der Zustand sei aber sehr schlecht gewesen: „Wenn Wagen lange stehen, dann leiden sie.“ Als die Deutsche Bahn nach 2000 die Restaurierung des Kaiserbahnhofs in Potsdam plante, kam auch der „Leninwaggon“ wieder ins Spiel – als Pendant zum Salonwagen von Kaiserin Auguste Viktoria steht er seit der Eröffnung 2005 in der Wagenhalle, er ist eine Dauerleihgabe des Nürnberger DB-Museums.

Jetzt, wo sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal jährt, habe es vermehrt Anfragen von der Presse gegeben, sagt die Historikerin Bartelsheim. Das bestätigt auch Standortleiterin Loboda in Potsdam – ein russisches Team bat unlängst um Eintritt, selbst die BBC sei vor Ort gewesen.

Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution gab es Anfragen aus dem Ausland

Und auch in Sassnitz gibt es eine zaghafte Lenin-Renaissance. Zwar heißt die Leninschule heute „Grundschule Ostseeblick“ und der Gedenkstein an den Lenin-Aufenthalt ist umgesetzt worden. Doch im Frühjahr gab es eine kleine Ausstellung in der Stadtbibliothek über die Lenin-Stippvisite 1917, vorbereitet vom Leiter des Stadtarchivs, Frank Biederstaedt, eröffnet vom Bürgermeister Frank Kracht (parteilos). Überrannt wurde die Schau zwar nicht. Aber es gab etliche Besucher auch von außerhalb, wie Archivmitarbeiterin Birgit Garbuzinski den PNN sagte: „Hier waren schon Japaner – und andere sind auf den Spuren Lenins die ganze Strecke aus der Schweiz abgefahren.“

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