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Landeshauptstadt: Kai und Atze

In Drewitz haben Schüler die Potsdamer Winteroper „Cain und Abel“ adaptiert. Sie heißt nicht nur anders – sie ist ein ganz eigenes Projekt

Die Musiker der Kammerakademie sitzen im großen Saal der Grundschule Am Priesterweg vor Marita Erxleben. „Also kein Mord?“, fragt ein Violinist sie. „Nein, kein Mord!“, sagt Marita Erxleben entschieden. Wie im vergangenen Jahr ist Erxleben künstlerische Leiterin des Projekts „Stadtteil macht Oper“, bei dem die Kammerakademie Potsdam (KAP) seit 2010 jedes Jahr mit der Stadtteilschule Drewitz und dem Begegnungszentrum oskar ein gemeinsames Projekt auf die Beine stellt.

Das Drewitz-Projekt – dieses Jahr unter dem Motto „Musik schafft Perspektive“– greift das Thema der Winteroper der Kammerakademie auf und vermittelt es kindgerecht. Im vergangenen Jahr wurde mithilfe der Grundschüler, der Musiker und Schauspieler aus der Mozart-Oper „Betulia liberata“ die Kinderoper „Betulia libe hä“. Dieses Mal ist es die Barockoper „Cain und Abel“ von Alessandro Scarlatti – eine biblische Erzählung über zwei rivalisierenden Brüder, die mit dem Mord an Abel durch den eigenen Bruder endet. Nächsten Donnerstag und Freitag führen die Schüler das Stück jeweils um 10 und um 18 Uhr in der Turnhalle auf.

Dort kommt natürlich niemand um. Für die Kinder ist vor allem der Konflikt unter den Brüdern von Bedeutung. Denn manchmal können Geschwister ganz schön anstrengend sein. „Mein Bruder wird oft bevorzugt“, „Mein kleiner Bruder nervt mich fast immer“ oder „Meine Schwester zerkratzt meine Playstation-Spiele“ schreiben die Schüler der Klasse 6a in ihre Hefter. Ihre Erfahrungen haben die Entwicklung des Stücks mitbestimmt, sagt Erxleben. „Unser Autor Michael Boden ist in die sechsten Klassen gegangen und hat mit den Kindern diskutiert, was es an Geschwisterkonflikten gibt.“

So hat das Stück auch nur noch wenig mit dem ursprünglichen Libretto gemein: Aus Cain und Abel werden Kai und Atze. Auch sie sind Rivalen, die sich gegenseitig beneiden. Atze ist fleißig in der Schule und hört klassische Musik. „Eher der Strebertyp“, sagt León Schröder, der den Atze spielt. „Manchmal wäre er aber auch gerne mal cool und wünscht sich, nicht immer die guten Noten nach Hause bringen zu müssen.“ Er muss so viel Verantwortung übernehmen, obwohl er jünger ist als Kai, der sich von den Eltern benachteiligt fühlt, lieber Basketball spielt als am Schreibtisch zu sitzen und der es ungerecht findet, dass sein Bruder mehr Taschengeld bekommt als er.

Alle 380 Schüler der Stadtteilschule werden in das Projekt einbezogen. So arbeiten die Klassen in verschiedenen Modulen, in denen jeweils ein Projektteil entsteht. Die verschiedenen Elemente werden kommende Woche zusammengeführt. Dann proben die Schüler erstmals gemeinsam mit den Musikern der KAP. Das Stück verbindet vielfältige musikalische Ausdrucksformen wie Gesang, Bodypercussion und Beatboxen mit Sprechchorälen und Tanz. In den Arbeitsgruppen stehen den Lehrern unter anderem die Mitglieder der KAP zur Seite. So leitet etwa Isabel Stegner, studierte Diplompädagogin und Violinistin, das Orff-Musizieren. „Die Kinder sind ganz offen und neugierig. Mit Instrumenten schwappt die Begeisterung natürlich manchmal über“, sagt sie.

Heute hat Jeremy Instrumentendienst. Er stellt einen großen Karton in die Mitte des Sitzkreises und verteilt alle Instrumente vor sich auf dem Boden. Seine Mitschüler aus der 4b greifen zielstrebig nach Tamburin, Glockenspiel und Triangel, aber auch exotischeres Klangwerkzeug wie der Waldteufel findet sich da.

In einer langen Probephase haben sich die Kinder ein passendes Instrument ausgesucht und wissen schon, was zu tun ist. Stegner dirigiert, regelt mit einem vereinbarten Zeichen die Lautstärke und die Länge der Töne. Sprechchöre wie „Hier gibt es Streit. Streit zwischen Atze und Karl“ helfen, den richtigen Rhythmus einzuhalten. „Ich versuche, den Kindern auch ein Orchesterfeeling zu geben“, so Stegner. „Was bedeutet es, einfach nur mal dazusitzen und zuzuhören?“

Auch die 34-jährige Nadin Schmolke, die als Leiterin für kulturelle Bildung der KAP das Projekt betreut, stellt fest, dass die Begegnung mit der Musik etwas bei den Kindern bewirkt. „Wir sehen das immer in den Orchesterprobenbesuchen, die wir anbieten. Ab der ersten Note sind sie total paralysiert. Das ist die große Kraft der Musik, die ist so unmittelbar und direkt, dass man sich ihr gar nicht entziehen kann.“ Der Drewitzer Dreiklang, wie die Zusammenarbeit der Stadtteilschule, des Begegnungszentrums oskar und der KAP genannt wird, versucht seit diesem Jahr auch, das Projekt für den Stadtteil Drewitz zu öffnen. So wird etwa die Kinderhilfseinrichtung Arche einen Teil der Bühnenrequisiten gestalten. „Wir breiten unsere Flügel ein bisschen aus, um alles noch mehr miteinander zu verknüpfen“, so Schmolke. Bei einer Tagung im Oktober hat die KAP bereits Akteure aus Kultur und Bildung über die Zusammenarbeit informiert, die am Ausbau ähnlicher Projekte interessiert sind. „Generell gibt es da aber kein Rezept“, betont Schmolke. Der Dreiklang sei das Resultat einer jahrelang ausgebauten Vertrauensgemeinschaft, die vor allem davon lebt, auf die jeweiligen organisatorischen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Für die Kinder ist es besonders toll, dass das Projekt langfristig angelegt ist. „Die Kinder wissen, wenn ich dieses Gebäude betrete, ist wieder was los.“

Für Erxleben, bekannt auch durch das Kindermusiktheater „Buntspecht“, ist das Projekt in Drewitz eine Chance, die Stärken der Grundschüler zu fördern. „Ich merke, wie die Kinder mutiger werden“, sagt sie. „Mir haben Lehrer erzählt, dass jetzt Schüler mitmachen, denen sie das gar nicht zugetraut hätten. Die wachsen richtig über sich hinaus.“ Musik sei der richtige Weg, das Gruppengefühl in den Klassen zu stärken, auch vor dem Hintergrund der Flüchtlinge, die in die Schule kommen. „In den Klassen sind ja auch Kinder, die noch gar kein Deutsch können. Die Musik ist eine Sprache, die sie auch ohne ihre eigene Sprache verstehen können. Bei dem Projekt ist so ein Miteinander, das ganz schnell eine Tür öffnen kann“, so Erxleben. Um den sozial schwachen Stadtteil Drewitz kulturell zu beleben und den Menschen Zugang zur Kultur zu verschaffen, sei das Projekt „Stadtteil macht Oper“ der richtige Ansatz. Sie erzählt, dass León Schröder einmal eine Familie aus Drewitz ins Hans Otto Theater eingeladen habe. „Da meinte die Mutter: Das Theater ist zu weit, da kommen sie nicht hin. Und so packen wir einfach die Kultur ein und gehen an den Ort.“

Theresa Dagge

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