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Schutz vor Schilddrüsenkrebs. Feuerwehrchef Wolfgang Hülsebeck will prüfen, ob Jodtabletten präventiv verteilt werden könnten.

© Tobias Reichelt

Landeshauptstadt: Jod-Tabletten für den Medizinschrank

Babelsberger sollen für atomaren Notfall gewappnet sein / Stadt prüft Änderung der Verteilungspraxis

Bei einem atomaren Ernstfall können Jodtabletten Leben schützen. In Potsdam sind 600 000 Stück auf Lager. Sie liegen in den Schränken von Feuerwehr und Katastrophenschutz für den Fall des Größten Anzunehmenden Unfalls (GAU) im Forschungsreaktor Berlin-Wannsee. Das könnte sich ändern: Nach Protesten besorgter Babelsberger wird in der Stadt über eine Änderung der Verteilungspraxis nachgedacht. Statt die Tabletten ausschließlich im Katastrophenfall vor der Haustür abzulegen, könnten sich Babelsberger präventiv versorgen. Ähnlich dem üblichen Verfahren in Ländern wie der Schweiz oder Österreich für Menschen im Wohnumfeld eines Kernkraftwerks.

„Wenn sich einige Leute sehr unsicher fühlen und nachts nicht mehr schlafen können, dann kann man so eine Option ins Auge fassen“, sagte Potsdams Feuerwehrchef Wolfgang Hülsebeck gestern im Rathaus. Entsprechende Prüfungen liefen. Werde der Plan umgesetzt, könnten sich Anwohner bis 45 Jahre, die im Vier-Kilometer-Radius des Forschungsreaktors leben, ihre Jodtabletten von der Stadtverwaltung aushändigen lassen. Das beträfe Potsdamer, die östlich der Nutheschnellstraße und des Heiligen Sees oder in Sacrow wohnen. In Deutschland sind Jodtabletten in der notwendigen Dosierung sonst nicht frei erhältlich.

Das Wirkungsprinzip ist einfach: Werden die Tabletten eingenommen, wird die Schilddrüse mit dem ungefährlichen Jod „gefüllt“. Das gefährliche radioaktive Jod aus der Umwelt kann sich dann nicht mehr in dem Organ sammeln. Für Menschen über 45 Jahren wird die Einnahme nicht empfohlen. Mit steigendem Alter nehme das Risiko von strahlungsbedingtem Schilddrüsenkrebs stark ab. Kritiker werfen dem Staat hingegen vor, mit der Altersbeschränkung Geld sparen zu wollen.

Weht eine radioaktive Wolke nach Potsdam, müssten rund 7000 Babelsberger im Radius von 2,5 Kilometern um den Reaktor des Berliner Helmholtz-Zentrums evakuiert, Tausende mit Jodtabletten versorgt werden. Ab dem Zeitpunkt des Unfalls bleiben vier Stunden, um die Tabletten einzunehmen, sollen sie ihre Wirkung entfalten. Um die Tabletten schnellstmöglich vor den Haustüren abzulegen, will die Feuerwehr Taxifahrer als zusätzliche freiwillige Kräfte einsetzen. In einer Anwohnerversammlung in Babelsberg hatte das für Irritation gesorgt – ob die Taxifahrer im Ernstfall lieferten, schien fragwürdig. Hülsebeck stellte klar: „Wir verlassen uns nicht auf die Taxifahrer, sie sind eine Option“ – eine, auf die man aber gerne zurückgreife. Bis zu einer Stunde könne es dauern, bis die ersten zwölf Kräfte der Feuerwehr mit der Verteilung der Tabletten beginnen könnten. „Um diese Lücke zu füllen, haben wir Lösungen gesucht.“

Die Nachricht von einem Riss im nuklearen Forschungsreaktor hatte in Babelsberg zusätzlich für Aufregung gesorgt. Das ARD-Politikmagazin „Kontraste“ hatte darüber berichtet. Am Donnerstagabend setzte das Magazin nach: Der Schaden sei im zentralen Kühlsystem zu finden. Nach Ansicht von Experten des Tüv Rheinland geht jedoch keine Gefahr von dem Schaden aus. Auch die Berliner Umweltverwaltung, zuständig für den Reaktor, ist dieser Meinung. Es bestehe zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, dass Kühlwasser austreten könne.

Das Berliner Abgeordnetenhaus sprach sich am Donnerstagabend dennoch für eine vollständige Sicherheitsüberprüfung des Forschungsreaktors aus. In einem Antrag hieß es, diese solle „zeitnah und ergebnisoffen“ vor der Wiederaufnahme des Betriebs erfolgen. Auch wird der Senat aufgefordert, sich beim Bundesverkehrsministerium für eine Ausweitung des Flugbeschränkungsgebietes um den Reaktor einzusetzen. Momentan ist der Reaktor außer Betrieb, er wird noch bis August gewartet. (mit dapd)

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