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Jahrestag des Mauerbaus: Wenn aus Zahlen Emotionen werden

Zum Jahrestag des Mauerbaus beschäftigten sich Potsdamer und Berliner Schüler mit Schicksalen von Opfern.

Potsdam - Laura Brandts Stimme wird rau, als sie davon erzählt, wie sie das Buch von Rita Bergemann über ihre Flucht von Potsdam in den Westen gelesen hat. „Ich habe viel geweint“, beschreibt die Zehntklässlerin. Sie steht mit Klassenkameraden aus dem Berliner Dreilinden-Gymnasium an der Mauergedenkstätte am Griebnitzsee. Zum 58. Jahrestag des Mauerbaus am gestrigen Dienstag haben die Jugendlichen gemeinsam mit Zwölftklässlern des Babelsberger Bertha-von-Suttner-Gymnasiums eine Gedenkveranstaltung vorbereitet. Bei einem gemeinsamen Projekttag vor den Sommerferien besuchten sie das ehemalige Grenzgebiet und trafen die Zeitzeugin Rita Bergemann. „Vorher waren die Menschen, die über die Mauer geflüchtet sind, und die Maueropfer nur Zahlen für mich. Das Gespräch hat mich dann sehr berührt“, sagte Schülerin Hanna Fehlberg, die vor den letzten sechs noch bestehenden Mauerelementen am Griebnitzsee aus Bergemanns Biografie vortrug.

Schwimmend von Sacrow bis West-Berlin

Bergemann, heute 79, flüchtete im Alter von fünf Jahren das erste Mal. Damals floh sie mit ihrer Familie vor der Roten Armee aus Schlesien und ließ sich in Potsdam nieder. Nach dem Abitur besuchte sie die Medizinische Fachschule der Charité in Berlin. Ab dem Bau der Mauer am 13. August 1961 war das unmöglich. Auch ihr Freund Michael konnte nicht weiter in West-Berlin studieren. Nur zwei Wochen nach dem Mauerbau schwammen beide von Sacrow durch die Havel nach West-Berlin, reisten weiter nach Köln. Sie waren zwei von 220 Potsdamern, die allein vom Mauerbau bis Ende September in den Westen flohen. Doch das Ankommen fiel ihnen nicht leicht. Als unverheiratetes Paar wurden sie getrennt untergebracht. Michaels in Potsdam gebliebene Mutter erkrankte und starb. Ihr Sohn kam über die Flucht und deren Tod nicht hinweg, er wurde depressiv und schwer krank, mit 28 Jahren starb er.

Großes Interesse der Jugendlichen

„Ich mache das hier für ihn“, sagte Bergemann am Rande der Gedenkveranstaltung. „Er war ein psychisches Opfer und damit ein Maueropfer wie die anderen auch“, sagte die rüstige Dame. Ihre Erinnerungen hat sie 2010 in dem Buch „Verschwommen“ veröffentlicht, verbunden mit historischen Anmerkungen der Journalistin Angelika Basdorf. Seit knapp fünf Jahren lebt Bergemann wieder in Potsdam, hat in der Stadt schon mehrmals öffentlich aus dem Buch gelesen und als Zeitzeugin mit Jugendlichen gesprochen. „Das Interesse ist groß, und die Schüler haben sehr intelligente Fragen gestellt“, sagte sie über das aktuelle Projekt von Suttner- und Dreilinden-Gymnasium.

Initiiert wurde die Zusammenarbeit von Manfred Kruczek vom Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte im Land Brandenburg. „Es ist mir wichtig, dass wir den Staffelstab weitergeben an die jüngere Generation“, so Kruczek. Die Schüler gehörten nicht mehr zur Erlebnisgeneration, aber durch die Begegnung mit Zeitzeugen und die Beschäftigung mit Schicksalen, so hofft er, könne bei ihnen ein Bewusstsein für die Besonderheit dieser Geschichte und deren Wichtigkeit entstehen.

Gedenken auch an anderen Orten der Stadt

Gedacht wurde der Maueropfer auch an zwei symbolischen Orten in der Stadt. An der Mauergedenkstätte Groß Glienicke erinnerten der Ortsvorsteher Winfried Sträter und der Spandauer Bezirksbürgermeister Helmut Kleebank an die Maueropfer. An der Glienicker Brücke wurden ebenfalls Kränze niedergelegt. Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) sprach dort vor rund 100 Besuchern, darunter viele Stadtverordnete, über die „brachiale Teilung“, die „gewaltsame Verhinderung von alternativen politischen Wegen“. Heute erinnere kaum noch etwas an diese „monströsen Narben“. An diesen Punkt knüpfte Christoph Vogtherr, neuer Chef der Schlösserstiftung, in seiner Rede an. Es sei eine der großen Aufgaben für die kommenden Jahre, „die Erinnerung an diese Grenze in die Parks einzuschreiben“. Lange habe man die Spuren der Gewalt tilgen wollen, die Gärtner hätten das als Heilung empfunden. Heute jedoch müsse man die Aufmerksamkeit der Erinnerung widmen. Deshalb wolle er die Parks Babelsberg und Glienicke künftig als eine gemeinsame Landschaft verstehen und überlegen, wie das Grenzgedenken dort sichtbar gemacht werden könne.

Annegret Kramp-Karrenbauer ebenfalls in Potsdam

Die CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer würdigte bei einer weiteren Gedenkveranstaltung an der Glienicker Brücke den Mut der Bürger der ehemaligen DDR, die den Fall der Mauer erkämpft hätten. „Von ihrem Rückgrat können manche auch im westlichen Teil Deutschlands sich eine Scheibe abschneiden“, sagte sie.

Am Griebnitzsee trugen die Schüler neben dem Leben von Rita Wegemann Geschichten von Maueropfern vor. „Es ist für mich kaum möglich, die Verzweiflung nachzuempfinden, die einen jungen Mann dazu brachten, lieber tot als unfrei zu sein“, sagte einer der Jugendlichen, nachdem er aus der Vita eines knapp 20-jährigen Mannes gelesen hatte.

Die Grenze im Garten

„Ich glaube nicht, dass wir heute noch verschieden sind“, sagte der Babelsberger Zwölftklässler Friedrich Dorrer. Sein Vater kommt aus dem Westen, seine Mutter aus dem Osten. „Früher haben wir oft über die deutsche Teilung gesprochen“, erklärte er. Sein Mitschüler Moritz Tilly stimmt ihm zu. „Ich wohne in Klein Glienicke, die Grenze verlief fast durch unseren Garten.“ Durch das Projekt habe er die Geschichte aber bewusster erlebt. 

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