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Interview zum Weltflüchtlingstag: „Potsdam macht richtige Schritte“

Annina Beck berät Migranten beim Diakonischen Werk. Sie kennet die Probleme von Flüchtlingen. Speziell Jugendliche, sagt sie, haben es schwer.

Frau Beck, anlässlich des Weltflüchtlingstags am Freitag gibt es im Thalia-Kino ab 16 Uhr eine Benefizveranstaltung mit Filmen und Diskussionen. Ist Potsdam eine flüchtlingsfreundliche Stadt?  

Es gibt jede Menge Handlungsbedarf, aber Potsdam macht auch schon richtige Schritte, zum Beispiel bei der Unterbringung von Flüchtlingen an zentralen Standorten in der Stadt wie dem Haeckelkiez oder jetzt dem Staudenhof oder wenn es darum geht, dass Leute schneller aus den Wohnheimen ausziehen können. Auch im Bildungsbereich steht Potsdam im Vergleich mit ländlichen Regionen in Brandenburg relativ gut da: Es gibt hier zum Beispiel zwei Willkommensklassen für die jüngeren Leute und eine Grundversorgung mit Sprachkursen.  

Wo sehen Sie Handlungsbedarf ?  

Beim Bildungszugang gibt es Defizite. Besonders groß ist das Problem für Jugendliche ab 17 Jahren, die erst in diesem Alter nach Deutschland geflohen sind. Es muss eine Möglichkeit geben, auch mit 17 Jahren einen Schulabschluss nachzuholen und dabei in Deutsch gefördert zu werden.  

Annina Beck arbeitet beim Beratungsfachdienst für MigrantInnen des Diakonischen Werks Potsdam e.V. im Bildungsprojekt „Clever“. Die 35-Jährige ist Diplomsozialarbeiterin.

Wieso?  

Die Jugendlichen sind dann für normale Gymnasien und Gesamtschulen nicht mehr zugelassen, sondern nur für den zweiten Bildungsweg. Aber dafür müssen sie schon Deutsch können. Sie haben aber keinen Anspruch auf Sprachförderung. Auch die Fahrtkosten zur Schule werden ihnen nicht erstattet. Da setzt unser Projekt „Clever“ an, das sich an junge Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthalt richtet.  

Wie viele Flüchtlinge beraten Sie momentan?  

105 Flüchtlinge aus Potsdam, Brandenburg/Havel, Potsdam-Mittelmark und dem Landkreis Teltow-Fläming.  

Mit welchen Problemen kommen sie zu Ihnen?   Ohne gesicherten Aufenthalt sind Bildungschancen immer mit Kosten verbunden. Das fängt bei der Übersetzung von Zeugnissen aus dem Heimatland an und reicht bis zum Busticket, wenn man zum Deutschkurs fahren möchte. Während des Asylverfahrens werden solche Kosten von niemandem übernommen. Auch in Betrieben gibt es Probleme: Wenn sich die Jugendlichen vorstellen, können sie nicht zusichern, dass sie die nächsten drei Jahre in Potsdam bleiben – denn Aufenthaltsgestattungen und Duldungen werden längstens für sechs Monate ausgesprochen. Bis es eine Entscheidung im Asylverfahren gibt, kann es Jahre dauern. Mit einer Duldung können die Flüchtlinge auch von einem Tag auf den anderen die Aufforderung zur Ausreise bekommen. In der Praxis ist das eine gesetzlich vorgeschriebene Ausbildungsverhinderung.  

Was können Sie mit dem Projekt dagegen tun?   Wir helfen zum Beispiel bei der Suche nach Fördermöglichkeiten, Bildungsangeboten und Sprachförderung. Wir vermitteln auch Freiwilligendienste oder versuchen, Praktika zu organisieren. Ob ein Praktikum erlaubt wird, entscheidet die Ausländerbehörde oder die Bundesagentur für Arbeit. Die Erlöse von der Benefizaktionen am Weltflüchtlingstag am Freitag kommt komplett dem Projekt „Clever“ und damit den jungen Flüchtlingen zu Gute.  

Viele Potsdamer werden aus dem Fernsehen die Bilder von Bootsflüchtlingen kennen, die im Mittelmeer ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen. Kommen diese Flüchtlinge überhaupt bis nach Potsdam?  

Teilweise schon. Sie haben oft dramatische Fluchtwege und -erfahrungen hinter sich. Allerdings kommen sie hier in Potsdam selten zur Ruhe. Durch die sogenannte Dublin-Verordnung müssen die Menschen dort, wo sie zuerst europäischen Boden betreten, ihr Asylverfahren antreten. Aber nicht alle, die zum Beispiel in Lampedusa stranden, können dort versorgt werden. Die Menschen leben dann auf der Straße, ohne Arbeitserlaubnis, Krankenversicherung oder die Möglichkeit, einen Sprachkurs zu belegen. Viele wandern dann weiter – können aber wegen der Dublin-Verordnung auch nach längerer Zeit wieder zurück in andere europäischen Länder geschickt werden. Das heißt, dass solche Flüchtlinge zwar in Potsdam leben,  aber in großer Unsicherheit.  Bei ihnen geht es stets darum, ob das Asylverfahren überhaupt in Deutschland bearbeitet wird. Deutschland, aber auch Europa zieht sich da aus der Verantwortung.  

Am Freitag zeigen Sie unter anderem eine Dokumentation mit dem Titel „Lampedusa auf St. Pauli“. Worum geht es da?  

Darum, was mit Menschen passiert, die von der Dublin-Regelung betroffen sind und gegen diese Flüchtlingspolitik demonstrieren. Es ist dasselbe, was wir in Berlin am Oranienplatz erleben konnten. 

Dort hatten Flüchtlinge protestiert und zwischenzeitlich ein Zeltlager errichtet…  

Am Freitag wird jemand vom Flüchtlingsrat Berlin da sein, der die Menschen am Oranienplatz begleitet hat. Wenn Flüchtlinge politisch aktiv werden, laut werden, ist das für sie noch nachteilig, berichten viele.  

Inwiefern?  

Dann gibt es zum Beispiel die nächste Duldung für eine noch kürzere Zeit. Viele Flüchtlinge wollen deshalb gar nicht auffallen. Von Rückschiebungen in Folge der Dublin-Verordnung sind auch Menschen hier in Potsdam betroffen. Hier erscheint die Polizei im Morgengrauen – und Stunden später sitzen die Flüchtlinge wieder in Polen oder Italien unter unmenschlichen Bedingungen.  

Wie können sich Potsdamer für Flüchtlinge engagieren?  

Es gibt viele Möglichkeiten für ein ehrenamtliches Engagement. Man kann zum Beispiel eine Patenschaft anbieten oder beim Erlernen der deutschen Sprache unterstützen. Wer Fremdsprachen wie Französisch, Somali, Arabisch, Persisch oder Russisch spricht, kann als Sprachmittler helfen. Melden kann man sich bei der Ausländerseelsorge des Kirchenkreises Potsdam, die ständig nach Menschen sucht, die Lust haben, Flüchtlinge zu begleiten. Die Ausländerseelsorgerin Monique Tinney bespricht vorher mit den Interessenten, was sie sich vorstellen können und bereitet sie gut vor.

Die Fragen stellte Jana Haase

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