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Hubertus Wenisch.

© Andreas Klaer

Interview zum Medikamenten-Skandal: „Das Land soll die Listen herausgeben“

Hubertus Wenisch, der Medizinische Geschäftsführer des Bergmann-Klinikums, über die schwierige Suche nach Informationen über Medikamententests westdeutscher Pharmafirmen in Potsdam

Herr Wenisch, seit wann ist im Bergmann-Klinikum bekannt, dass auch Potsdamer Patienten zu DDR-Zeiten an den umstrittenen Pharmatests westdeutscher Firmen beteiligt wurden?

Ich habe davon aus der Zeitung und dem Fernsehen erfahren. Am Klinikum haben wir bislang keine schriftlichen Belege dafür.

Die Landesregierung hat die Existenz einer Liste vom damaligen Bundesgesundheitsamt aus dem Jahr 1991 eingeräumt, nach der allein in der Zeit vom Januar 1989 bis September 1990 brandenburgweit an mehr als 300 Patienten zwölf verschiedene Wirkstoffe westdeutscher Pharmafirmen getestet wurden – unter anderem auch am Bezirkskrankenhaus Potsdam.

Wenn das Land die Aufklärung fördern möchte, sollte es uns diese Listen zur Verfügung stellen! Wir benötigen konkrete Angaben, um etwas angehen zu können. Da wir momentan außer einer wenig konkreten Aussage wenig in der Hand haben, können wir auch nicht nachschauen.

Hubertus Wenisch ist seit Herbst 2012 der Medizinische Geschäftsführer des städtischen Klinikums „Ernst-von Bergmann“. Der Facharzt für Chirurgie und Professor war zuvor Ärztlicher Direktor des Bergmann-Klinikums. Er wechselte 1997 nach Potsdam.

Was passiert jetzt am Klinikum?

Wir haben unser Archiv beauftragt, zu recherchieren. Denn wir haben keine Mitarbeiter in leitender Position mehr, die noch etwas über solche Pharmatests wissen könnten. Wir wissen derzeit auch nicht, in welche Medikamentenrichtung das zielt, ob das Blutdruckmittel, Herzmittel, Tumormittel waren, sodass also die verschiedensten Disziplinen betroffen sein könnten. Unsere Archivarin ist im Augenblick damit beschäftigt, herauszufinden, ob bei uns überhaupt noch Studienakten aus der Zeit vorliegen.

Sie durchsucht die Patientenakten?

Nein. Das wäre viel zu aufwendig und nicht zielführend.

Wieso?

Wir haben insgesamt rund 35 Kilometer Aktenregale mit Patientenakten aus den letzten 30 Jahren. Die Akten sind nach Jahrgang, Name und Patientennummer sortiert. Wenn Sie das jahrgangsweise absuchen, ist das wie die Nadel im Heuhaufen. Selbst wenn wir nur die Jahre 1989 bis 1991 untersuchen würden, wären das mindestens 50 000 Patientenakten. Ohne konkrete Hinweise ist es praktisch unmöglich, da einen Einzelfall zu finden. Wir brauchen Namen, Aufnahmenummern oder zumindest eine Fachabteilung, um die Suche einzugrenzen.

Wo könnte es solche Hinweise geben?

In den Studienakten. Normalerweise ist es so, dass die Studienakten nicht unbedingt Bestandteil der Patientenakte sind. Nach heutiger Gesetzgebung muss sogar nur die Einwilligung des Patienten zur Studienteilnahme in die Patientenakte aufgenommen werden. Die eigentlichen Studiendetails hebt man separat auf – auch für Nachfragen vom Auftraggeber der Studie. Denn es ist ja eine Frage, was man für den Patienten als Behandlungskontrolle braucht, und eine andere, was der Studienausrichter verlangt.

Gibt es für diese Studienunterlagen auch eine Aufbewahrungsfrist?

Ja. Nach der aktuellen Verordnung zur guten klinischen Praxis und dem Arzneimittelgesetz müssen Studienunterlagen zehn Jahre nach Beendigung oder Abbruch der Studie aufbewahrt werden.

Besteht denn dann überhaupt die Chance, heute noch etwas aus der Vorwendezeit zu finden?

Wir schauen momentan im Archiv Akten durch, die wir aus dem Nachlass ehemaliger Chefärzte haben. Es könnte auch sein, dass die Studienakten wie die ganze zentrale Aktenführung aus DDR-Zeiten nach der Wende umgelagert wurden. Teile des alten Aktenmaterials sind meines Wissens nach ans brandenburgische Landesarchiv gegangen. Wir wissen aber nicht, unter welchem Raster das dort abgelegt ist. Das macht das Ganze etwas kompliziert und nicht auf die Schnelle lösbar.

Wann rechnen Sie mit einem ersten Ergebnis?

Bis Ende der Woche wissen wir hoffentlich, ob in den Nachlassakten der früheren Chefärzte etwas enthalten ist oder nicht.

Wer ist bei der Aufklärung neben dem Land noch in der Pflicht?

Ich denke, früher oder später werden die damaligen Studienleiter von den bundesrepublikanischen Pharmafirmen gefordert sein, nachzuweisen, mit welchen Kliniken sie zusammengearbeitet haben und welche Medikamente zum Einsatz kamen.

Über die Vorfälle wurde ja bereits in den 1990er-Jahren berichtet. Gab es innerhalb des Hauses Gerüchte zu den Tests, Mitarbeiter, die davon noch wussten?

In meiner Zeit – ich bin 1997 nach Potsdam gekommen, seit 2000 leitender Chefarzt – habe ich davon nie etwas gehört. Das einzige, was kolportiert wurde, ist, dass die Versorgungslage früher schwierig war und man froh war für alles, was man aus dem Ausland über irgendwelche Kanäle bekommen hat. Das betraf aber keine Tests, sondern etablierte Medikamente.

Haben sich im Klinikum mittlerweile schon Betroffene gemeldet?

Nein. Wenn dem so wäre, würden wir versuchen, die alten Unterlagen zu bekommen und die Sachlage aufzuklären.

Wäre das Klinikum für mögliche Entschädigungszahlungen in der Pflicht?

Das müssten wir prüfen. Im Prinzip sind die Bundesrepublik und die Landeshauptstadt Potsdam Rechtsnachfolger der DDR-Strukturen.

Die Verunsicherung unter vielen Potsdamern dürfte jetzt groß sein. Rechnen Sie noch mit einem Ansturm an ehemaligen Patienten?

Eigentlich nicht. Die Frage ist auch, wie das die Menschen zur damaligen Zeit empfunden haben. Es war ungeheuer schwierig, überhaupt an Medikamente aus dem Westen zu kommen, sodass die Patienten – je nach Darstellung des behandelnden Arztes – möglicherweise sogar froh waren, einen Wirkstoff zu bekommen, den es nicht in der Apotheke gab. Aber das sind nur Vermutungen.

Wie laufen heute Medikamentenstudien am Bergmann-Klinikum ab?

Da gibt es ganz klare Regeln. Zuerst prüft die Ethikkommission der Landeshauptstadt, ob die Studie überhaupt durchgeführt werden muss. Wenn es das Ethikvotum gibt, muss natürlich der Patient umfassend aufgeklärt sein und seine Zustimmung geben. Für die Durchführung gibt es dann ein genaues Programm, nach dem der Arzt die Wirkung und mögliche Nebenwirkungen kontrolliert. Die Prüfabläufe sind aus meiner Sicht so gut, dass der Testteilnehmer praktisch kein Risiko eingeht. Aber er muss sich natürlich entscheiden können, ob er daran teilnehmen will oder nicht.

Wie viele Studien gibt es heute pro Jahr am Bergmann-Klinikum?

Das hängt vom Fachgebiet ab. In der Onkologie, also der Tumorbehandlung, werden sehr viele Behandlungen nach Studienprotokollen durchgeführt. Dort laufen aktuell 36 Studien – die sind zum Teil aber ausgelegt auf nur fünf Patienten. Ein anderer Schwerpunkt für Studien sind Herz-Kreislauf-Medikamente. Der Nutzen solcher klinischer Studien ist groß: Die Behandlungsfortschritte der vergangenen Jahre etwa in der Onkologie sind ausschließlich durch Studien möglich geworden. Als ich studiert habe, lag die Sterblichkeit von bestimmten Leukämie-Patienten noch bei 90 Prozent – heute sind es fünf Prozent.

Die Fragen stellte Jana Haase.

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