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Eine ukrainische Familie an der polnischen Grenze. Der Krieg hinterlässt auch seelische Spuren. 

© dpa

Interview | Traumaexperte Zimmermann-Viehoff: „Es gibt keine Löschtaste, kein Vergessen“

Traumaexperte Frank Zimmermann-Viehoff vom Potsdamer Klinikum über seelische Folgen des Krieges, Hilfsmöglichkeiten und die Bedeutung von Ritualen.

Herr Zimmermann-Viehoff, die von Ihnen geleitete Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Potsdamer Bergmann-Klinikums bietet eine Akutsprechstunde für Geflüchtete aus der Ukraine an. Warum machen Sie das?
Wir gehen davon aus, dass der Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung bei den Geflüchteten hoch ist und in der Zukunft noch steigen wird. Krieg richtet unglaubliche Verwüstungen an – nicht nur in einem Land und den Städten, sondern auch in den menschlichen Seelen. Deswegen ist damit zu rechnen, dass ein relevanter Anteil der Geflüchteten an psychischen Störungen erkranken und professionelle Hilfe brauchen wird.

Wird Ihr Angebot bereits angenommen?
Wir erleben noch keinen Ansturm, was aber nicht überraschend ist. Die Erfahrung zeigt, dass viele Geflüchtete in den Tagen und Wochen nach dem Ankommen in einem Überlebens- und Funktionsmodus sind. Sie kümmern sich erst einmal darum, dass die existenziellen Bedürfnisse Unterkunft, Sicherheit, Essen gewährleistet sind. Zudem beschäftigen sie viele drängende Fragen: Was ist mit Angehörigen und den Menschen, die in der Ukraine verblieben sind? Was passiert in der Heimatstadt? Häufig zeigen sich die Probleme und Störungen erst, wenn ein wenig Ruhe eingekehrt ist.

Worunter leiden Menschen, deren Seele durch den Krieg verletzt wurde?
Das kann sehr unterschiedliche Facetten und Folgen haben. Vereinfachend lassen sich zwei Gruppen bilden: Einmal die weniger schwer Betroffenen, die das Glück hatten, noch fliehen oder sich in Sicherheit bringen zu können, die nicht am eigenen Leibe Bombenangriffe oder schreckliche Gräueltaten erfahren mussten. Diese Menschen leiden insbesondere unter Ängsten: Sie haben Angst um die Angehörigen, die noch im Land sind, aber auch persönliche Existenz- und Zukunftsängste. Sie leiden unter Schlafstörungen, zum Teil unter Appetitstörungen, Gewichtsverlust und anhaltender Anspannung. Sie finden schwierig zur Ruhe, obwohl sie hier in Sicherheit sind. Denn sie wissen, dass gleichzeitig im Heimatland schreckliche Dinge passieren.

Dr. Frank Zimmermann-Viehoff.
Dr. Frank Zimmermann-Viehoff.

© Klinikum Ernst von Bergmann

Und die zweite Gruppe?
Das sind Menschen, die noch unmittelbarer vom Krieg betroffen sind. Die Bombardements miterlebt haben, die vielleicht miterlebt haben, wie Menschen gestorben sind oder noch Schlimmeres. Ein Teil von ihnen wird vermutlich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Ein Hauptsymptom bei diesem Krankheitsbild ist das Wiedererleben des traumatischen Erlebnisses in Form von immer wieder einschießenden Bildern, von Alpträumen und Flashbacks. Die Betroffenen vermeiden, sich in Situationen zu begeben, die die Erinnerung auslösen können. Oft ziehen sie sich zurück, können vielleicht nicht ertragen, dass das Licht ausgemacht wird oder ähnliches. Es gibt auch Symptome einer Übererregung, eine anhaltende innere Unruhe und Anspannung, Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit.

Viele Potsdamer:innen helfen Geflüchteten aus der Ukraine. Wie können sie die Menschen unterstützen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie seelisch sehr belastet sind?
Reden ist immer gut. Fragen, ein Gesprächsangebot machen. Das mag nicht immer für jeden der richtige Zeitpunkt sein, aber für manche Betroffene ist es gut, früh über Erlebtes zu berichten. Es sind ja vor allem Sozialarbeiter oder Seelsorger, die den Erstkontakt mit den geflüchteten Menschen haben. Wenn sie signalisieren: Ich bin da, wenn du sprechen willst, ist das erst mal das Wichtigste.

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Was kann aus Ihrer fachlichen Sicht helfen, wenn Geflüchtete stark unter Ängsten leiden?
Da gibt es eine ganze Menge, was man tun kann, ohne studierter Psychotherapeut oder Psychiater sein zu müssen. Die Solidarität untereinander ist wichtig und auch hier das Signal: Ich bin da, ich höre zu. Eine pragmatische Empfehlung, die wir geben, ist, den Konsum von Nachrichten aus dem Kriegsgebiet zu begrenzen. Viele verfolgen das Geschehen in der Heimat nonstop im Internet, eine schreckliche Nachricht nach der anderen. Das führt dazu, dass sie keine Momente der eigenen Entspannung finden. Gleichzeitig sind die Handlungsmöglichkeiten, die die Betroffenen hier aus Deutschland haben, begrenzt. Daher empfehlen wir: Beschränken Sie den Konsum von Nachrichten aus der Region auf zum Beispiel dreimal am Tag für 15 Minuten.

Was hilft noch?
Eine Tagesstruktur aufrechtzuerhalten ist ganz wichtig. Den Tag durch Rituale zu strukturieren. Insbesondere, wenn Frauen mit Kindern betroffen sind. Sie sollten möglichst überlegen: Welche Strukturen, die sie vor dem Krieg hatten, in ihrer Community, in ihrer Familie, in ihrem sozialen System, können sie auch hier beibehalten? Zu bestimmten Zeiten gemeinsam zu essen vielleicht. Es ist aber auch eine gute Idee, sich neue Rituale auszudenken. Gemeinsam singen oder nachmittags ein Spiel zusammen zu spielen, damit der Tag einige solcher Inseln hat.

Ein Junge vor einem Autowrack und einem zerstörten Wohnhaus in Mariupol. 
Ein Junge vor einem Autowrack und einem zerstörten Wohnhaus in Mariupol. 

© REUTERS

Gibt es noch mehr, das die Ausnahmesituation besser erträglich macht?
Eine große Quelle der Resilienz ist das Gefühl, etwas Sinnvolles tun zu können. Seine Fähigkeiten, beruflich oder anderweitig, gewinnbringend für andere einzusetzen. Eine Lehrerin könnte sich zum Beispiel um andere Kinder kümmern, sie ein bisschen unterrichten. Das hilft gegen das Ohnmachtsgefühl. Viele der Menschen wollen das auch, sie sind extrem willig und motiviert, sich einzubringen.

Unter den Geflüchteten sind viele Kinder. Es heißt, sie litten sehr stark und noch einmal anders als Erwachsene unter Kriegserfahrungen?
Ja, das stimmt. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je früher Traumatisierungen stattfinden, umso schädlicher sind sie. Insofern sind Kinder eine besonders vulnerable Gruppe. Andererseits haben Kinder auch eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit, die immer wieder verblüffend ist. Es hängt sehr stark davon ab, was das Kind tatsächlich am eigenen Leib erlebt hat, wie mit dem Kind kommuniziert wird, wie das Kind in das soziale System eingebettet ist. Es muss nicht automatisch jedes Kind dauerhaften Schaden davon nehmen. Aber es wird das eine oder andere Kind geben, das die Folgen noch lange spüren wird.

Sie rechnen damit, dass mit zunehmender Zeit seit Kriegsbeginn die Zahl der Menschen steigt, die psychotherapeutischer Behandlung und Betreuung brauchen. Gibt es genügend Fachkräfte und Therapieplätze?
Wie hoch der Bedarf für Psychotherapie, spezifische Traumatherapie, am Ende des Tages genau sein wird, weiß derzeit sicher niemand – trotz der Daten aus anderen Kriegen und Krisen, die wir haben, die sich aber nicht uneingeschränkt übertragen lassen. Ich erwarte auf jeden Fall, dass der Bedarf steigen wird, dass zusätzliche Ressourcen benötigt werden, insbesondere personell. Dafür muss es dann eine angemessene Gegenfinanzierung der Kostenträger geben. Wie es sich entwickelt, hängt sehr stark vom Kriegsverlauf ab und davon, wann wie viele Menschen zurückkehren können.

Eine praktische Frage: Wie bewältigen Sie die Sprachbarriere in der Therapie?
Das haben wir über Dolmetscher-Laptops organisiert. Darüber schaltet sich beim Gespräch ein Dolmetscher von außerhalb zu. Damit machen wir sehr gute Erfahrungen. Gerade im Bereich Traumatherapie ist es nicht ratsam, ukrainische Geflüchtete, die Deutsch oder Englisch können, als Übersetzer einzubinden. Sie würden zusätzlich dadurch belastet, dass sie als selbst vom Krieg Betroffene den Bericht einer anderen Person anhören müssen.

Erfahren durch den Krieg Russlands in der Ukraine Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, eine Retraumatisierung?
Es ist ganz sicher so, dass das bei einigen Menschen schlafende Dämonen weckt. Die spezifischen Bilder von Kriegshandlungen können bei einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Trigger wirken. Dann können auch im hohen Alter und viele, viele Jahre nach Kriegsende noch Symptome auftreten wie Schreckhaftigkeit, Alpträume, Unruhe oder Angstzustände.

In Potsdam werden Geflüchtete aus der Ukraine unter anderem in der Metropolishalle untergebracht.
In Potsdam werden Geflüchtete aus der Ukraine unter anderem in der Metropolishalle untergebracht.

© Andreas Klaer

Wie kann man helfen, wenn man dies bei Großeltern oder älteren Freunden und Bekannten beobachtet?
Wenn man merkt, dass jemand unruhig wirkt, plötzlich schlecht schläft oder im Schlaf schreit, sollte man nachfragen: Was ist los? Was beschäftigt jetzt gerade? Will derjenige darüber sprechen? Selbst bei Menschen, die kognitive Einschränkungen oder Demenz haben, können die Kriegsbilder von heute bedrohliche Erinnerungen auslösen. Für sie ist Orientierung im Hier und Jetzt jedoch noch schwieriger als für uns. Das heißt, da vermischt sich unter Umständen das Erleben von damals noch stärker mit den Bildern von heute und kann nicht mehr gut getrennt werden. Dann ist es extrem wichtig, diesen Menschen so gut wie möglich zu orientieren, ihn anzusprechen: Schauen Sie sich mal um, wo sind Sie denn jetzt gerade – Sie sind in Potsdam! Wir haben das Jahr 2022 und das, was Sie gesehen haben an Bildern, ist im Fernsehen und spielt sich ganz woanders ab.

Die Erinnerung an Krieg, so scheint es, bleibt für immer. Kann ein Mensch ein Kriegstrauma jemals überwinden und wieder weitgehend unbeschwert durchs Leben gehen?
Auch mit der besten Therapie der Welt können wir traumatische Erfahrungen nicht löschen. Es gibt keine Löschtaste und kein Vergessen. Was wir mit guter Therapie aber tun können ist, die ganzen traumatischen Erinnerungen, die wie Splitter im Kopf herumfliegen, noch einmal zu einem Ganzen zusammenzufügen und sie dann sozusagen geordnet in das Regal des Lebens zu stellen.

Wie funktioniert das genau?
Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung ist das Problem, dass eine oder mehrere alte, schmerzliche Erfahrungen immer wieder ins Hier und Jetzt einschießen und es sich dann für die Betroffenen so anfühlt, als würde alles jetzt gerade passieren, in diesem Moment. Das ist nicht kontrollierbar und macht immer wieder große Angst. Mit einer Therapie gelingt es uns zu sagen: Das ist Teil deines Lebens und wir können es nicht mehr ändern. Wir stellen es aber wie andere Erinnerungen des Lebens an seinen Platz im Gedächtnis und verorten und verankern es dort im Damals, wo es stattgefunden hat. Wir lassen unser Gehirn lernen, dass im Hier und Jetzt die Bedrohung vorbei ist. Dann wird für die meisten Menschen der Weg frei für ein erfülltes und gutes Leben.

Das Interview führte Sabine Schicketanz

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