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Ines Reich.

© Andreas Klaer

Interview: „Spuren zum Sprechen bringen“

Historikerin Ines Reich über die Dauerausstellung in der Potsdamer Gedenkstätte Leistikowstraße, die am 18. April eröffnet wird, die Konflikte darüber und Zukunftspläne.

Frau Reich, was ist die Leistikowstraße für Sie, Forschungsfeld oder Gedenkstätte?

Die Leistikowstraße 1 ist für mich ein Ort mit einer vielfältigen Geschichte, verknüpft mit unglaublich tragischen Schicksalen. Es gilt, an diesem Ort diese Dinge zu recherchieren, sie zu vermitteln und ein Gedenken zu ermöglichen. Die Gedenkstätte Leistikowstraße ist also im modernen Sinn ein zeithistorisches Museum, was vielfältige Aufgaben hat: Bildung und Vermittlung, humanitäre Aufgaben – die Begleitung von Zeitzeugen und deren Angehörigen – Forschungsaufgaben sowie die Vermittlung und Versöhnung unterschiedlicher Interessen.

Die ehemaligen Häftlinge werfen Ihnen vor, das Gewicht mehr auf die Forschung als auf das Gedenken zu legen.

Genaue historische Kenntnisse sind die Voraussetzung, um sie in der Bildungsarbeit vermitteln und auch der Opfer gedenken zu können. Man kann das eine vom anderen nie lösen. Der Gegensatz zwischen Forschen und Gedenken stellt sich in einer modernen Gedenkstätte nicht. Allerdings gibt es mitunter einen Konflikt zwischen der Uneindeutigkeit des historischen Geschehens und dem verbreiteten Wunsch, die Geschichte als Folie für einfache und klare Botschaften für unsere Gegenwart zu nutzen. Das Selbstverständnis von Gedenkstätten hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert – ausgelöst von der Notwendigkeit, die großen KZ-Gedenkstätten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR neu zu gestalten. Das hat eine Welle ausgelöst, zuerst in den neuen Ländern, dann auch in der alten Bundesrepublik. Gedenkstätten funktionieren heute anders als in den 1950er Jahren, wo sehr stark mit naturalistischen Inszenierungen gearbeitet wurde, zum Teil sehr plakativ, wenn Sie an die DDR-Gedenkstätten denken. Heute geht es darum, die Geschichte differenzierter zu vermitteln und den Menschen die Möglichkeit zu geben, komplizierte historische Zusammenhänge zu verstehen.

Sie sagen, es gibt den Zwiespalt nicht zwischen der Notwendigkeit, Täterbiografien zu erforschen, und gleichzeitig die Bedürfnisse der Zeitzeugen zu berücksichtigen?

Das Wesen einer Gedenkstätte ist es, mehr zu sein als ein Museum und mehr zu sein als eine Forschungsstelle. Das macht den besonderen Charakter dieses Ortes aus. Gerade die humanitären Aufgaben haben einen besonderen Stellenwert. So werden am 18. April als Teil der Ausstellungseröffnung an einer neuen Gedenktafel für die ehemaligen Häftlinge Kränze niedergelegt. Die Gedenktafel an der Gefängniswand wird auch Ort für künftige Gedenkveranstaltungen sein.

Sie haben das Haus systematisch erforscht. Was haben Sie herausgefunden?

Das Haus Leistikowstraße 1 hat eine vielfältige Geschichte – es wäre vermessen zu behaupten, es sei gelungen, in nur drei Jahren den Ort vollständig zu erforschen. Wir haben viele Themen neu recherchiert, neue Einsichten gewonnen und vorhandenes Wissen vertieft. Das wird Aufgabe der nächsten Jahre sein, Themen, die wenig oder gar nicht angefasst wurden, nun zu recherchieren.

Aber was legen Sie am 18. April zunächst einmal vor?

Wir werden eine Dauerausstellung präsentieren, die mit modernen musealen Mittel wie dreidimensionalen Exponaten und Medienstationen auf rund 1000 Quadratmetern die Geschichte des Gefängnisses erzählt. Dabei stehen die Menschen, die hier gelitten haben, im Mittelpunkt, allein 50 Biografien werden thematisiert. Uns war klar, dass das Gefängnisgebäude ein Alleinstellungsmerkmal hat: wegen seiner historischen Bedeutung und wegen seines besonderen Erhaltungszustandes. Bei der Konzeption haben wir versucht, vom Ort auszugehen und die erhaltenen Spuren des Haftalltags ,zum Sprechen’ zu bringen. Der Besucher kommt ins Haus, sieht die zugemauerten Fenster, die Gitter, dieses völlig deformierte Treppenhaus... Im Obergeschoss, wo der Rundgang beginnt, versuchen wir dann zwei Fragen zu beantworten: Wer war zuständig für das Gefängnis, wer waren die Täter, wo kamen sie her, was war ihre berufliche Funktion? Und zweitens: Wer geriet in die Fänge des Geheimdienstes? Danach geht der Besucher hinunter ins Erdgeschoss, wo der Haftalltag dokumentiert wird, eine Kombination aus verschiedenen Medienstationen und Ausstellungsvitrinen. Jede Medienstation zeigt fünf Sequenzen mit Häftlingsinterviews zu verschiedenen Aspekten des Haftalltages. Da kommen Frauen wie Männer zu Wort, die zu unterschiedlichen Zeiten im Haus inhaftiert waren. Den Abschluss und zugleich beeindruckendsten Teil der Ausstellung bildet der Keller. In zwei Kellerzellen kann sich der Besucher in die Schicksale von Inschriftenautoren vertiefen. Streiflicht macht die Inschriften sichtbar, Fotos und Kurzbiografien informieren über das Schicksal der Personen, die ihr letztes Lebenszeichen an der Wand hinterlassen haben.

Wie haben Sie eine Inschrift einer konkreten Person zuordnen können? Das klingt nach Kriminalistik ...

Wir haben zunächst mit Hilfe eines Restaurators die Wände abgelesen, Zentimeter für Zentimeter, und die Inschriften in einer Datenbank erfasst. Das entspricht der klassischen Aufgabe eines Museums: Sammeln und Bewahren für die Ewigkeit. Im nächsten Schritt haben wir die Angaben übersetzt und ausgewertet. Oft sind es nur Namensfragmente, die wir an der Wand fanden. Wir haben anhand von bekannten Namen oder russischen Dokumenten versucht, die Lücken in den Wortfragmenten zu füllen. Wir sind auch an andere Archive herangetreten mit der Frage: Gibt es auch andere Unterlagen? Wer kann wie helfen? Auf diese Art ist es uns gelungen, sowohl Überlebende zu finden als auch Angehörige. Insgesamt haben wir 44 Einzelschicksale von Inschriftenautoren dokumentieren können.

Sie haben persönlich ehemalige Häftlinge aufgesucht, die Sie anhand von Inschriften ausfindig gemacht haben?

Es waren bewegende Momente ... Als wir anfingen, hatten wir Zweifel, die Inschriften tatsächlichen Häftlingen zuzuordnen. Kaum Hoffnung hatten wir, dass Inschriftenautoren die Torturen überlebt haben, denn die Leistikowstraße war oft die erste Station auf einem langen Weg durch die Gefängnisse und Lager. Wir waren hocherfreut, als wir Überlebende fanden. Ich selbst habe mit Inschriftenautorinnen Interviews geführt. Wir hatten Fotos von den Inschriften mit und berichteten, was wir vorhaben.

Wie heißen die Frauen?

Das sind Elisabeth Reich, jetzt verheiratet, Reich war ihr Mädchenname, sowie Erika Sagert und Elisabeth Weimann.

Hat es die Frauen berührt, dass sich die heutige Gesellschaft für ihr Schicksal interessiert?

Sie sind der Arbeit der Gedenkstätte sehr verbunden und freuen sich, dass sich jemand um diesen besonderen Aspekt der Geschichte kümmert und ihn ausstellt. Das hat sie sehr berührt.

Sie haben in Archiven geforscht. Welche standen Ihnen offen, wo gab es Hürden?

Viele Archive, Gedenkstätten und Museen haben uns unterstützt. Am Anfang war das Material, das uns der Verein Memorial zur Verfügung stellte, ein wichtiger Grundstock. Wir haben uns dann zunächst die in Deutschland zugänglichen Akten angesehen, im Bundesarchiv, in den Landesarchiven, den Kreisarchiven. Wir haben intensive Beziehungen zum Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Maßgeblich geholfen hat die Stiftung Sächsische Gedenkstätten, die einen reichen Fundus an Fotos und Dokumenten hat. Die Firma Facts & Files half uns. Sie ist bekannt geworden mit Recherchen zu Personen, die in Moskau von 1950 bis 1953 erschossen wurden. Gute Erfahrungen haben wir mit dem russischen Staatsarchiv GARF und dem lettischen Staatsarchiv in Riga gemacht, das sogar über Geheimdienstunterlagen verfügt. Auf diese Weise ist es uns gelungen, deutsche Quellen zu ergänzen. Wobei wir uns besonders gefreut haben, aus dem lettischen Staatsarchiv erstmals vollständige Ermittlungsakten von Häftlingen bekommen zu haben, sodass wir in der Lage waren, unsere biografischen Recherchen voranzutreiben. Wir erhielten wichtige Erkenntnisse, wie der Geheimdienst funktionierte. Aus dem russischen Staatsarchiv haben wir aus dem Bestand des Obersten Sowjets Unterlagen bekommen in Zusammenhang mit Gnadengesuchen, die Häftlinge aus der Leistikowstraße eingereicht haben, um der Todesstrafe zu entgehen. Haftbezogene Unterlagen haben wir aus dem russischen Militärarchiv in Moskau, die Haftakte des Potsdamers Peter Seele stammt von dort.

Ein spektakulärer Fund stammt aus Washington. Stichwort: Rafael Goldfarb.

Ein Mitarbeiter hat die Bestände in Washington gesichtet, weil wir davon ausgingen, dass die Geheimdienste ihr gegenseitiges Tun sehr genau beobachten. Durch Zufall hat er den Bestand über den sowjetischen Überläufer Goldfarb gefunden, der auch freigegeben war. Wir haben ansonsten das Problem, dass die Archive aller Geheimdienste schwer oder gar nicht zugänglich für die wissenschaftliche Forschung sind. Das gilt übrigens auch für die Archive des Bundesnachrichtendienstes. Ein Teil des Materials über Goldfarb ist in der Ausstellung zu sehen.

Hat es auch politische Wünsche hinsichtlich der Ausstellungsgestaltung gegeben?

Wir haben das Konzept der Ausstellung aus dem Ort und seiner Geschichte heraus entwickelt.

Das heißt, es gab kein politisches Hineindirigieren in Ihre Arbeit?

Die Gedenkstätte hat zwei Gremien, Kuratorium und Beirat, die die Entwicklung des Hauses fachlich begleiten. Die Ausstellungstexte wurden dort beraten, einzelnen Formulierungen geändert und das Ergebnis von der Mehrheit des Kuratoriums beschlossen.

Wie geht es nach der Eröffnung am 18. April weiter?

Wir wünschen uns für dieses Haus viele Besucher, ein breites Publikum, das einen vertieften Eindruck davon bekommt, wie die sowjetische Besatzungsmacht zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen jenseits von Recht und Gesetz politischen Terror ausübte, um jeglichen Widerstand rücksichtslos zu brechen. Wir wünschen uns ein offenes und lebendiges Haus. Wir haben zwei pädagogische Projekte initiiert, das eine ist eine szenische Lesung aus Häftlingserinnerungen durch Potsdamer Schüler. Das wird Bestandteil der Eröffnungsveranstaltung. Am 3. Mai öffnet dann die erste Schülerausstellung. Schüler haben sich seit September 2011 jeden Monat einen Tag mit der Häftlingsbiografie von Ernst-Friedrich Wirth beschäftigt. Wirth gehörte zur Meuselwitzer Gruppe, eine Widerstandsgruppe aus Thüringen. Die Schüler haben die Biografie recherchiert, die Ausstellungstexte geschrieben, die Dokumente ausgewählt, die Vitrine gestaltet. Gerade sind sie dabei, eine Hörstation zu schneiden. Ernst-FriedrichWirth hat zugesagt, am 3. Mai zur Eröffnung zu kommen. Dann geht es gleich weiter: Im Juni wird das Forum für zeithistorische Bildung der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten Gast sein im Haus. Wir erwarten 150 Gäste. Ende Juni wird dann hier das traditionelle Mutter-Kind-Treffen stattfinden. Einmal im Jahr treffen sich Mütter, die in Speziallagern und in MfS-Gefängnissen Kinder geboren haben oder mit Kleinkindern dort inhaftiert waren. Auch in der Leistikowstraße wurde eine Frau hochschwanger inhaftiert und hat dann in Hoheneck ihr Kind bekommen. Das ist somit auch ein Thema, das an diesen Ort gehört. Das war bisher weniger bekannt.

Sagen Sie, was bleibt offen, was ist noch nicht erforscht?

Wir wissen noch zu wenig über die Verhaftung von Oppositionsgruppen bis 1955. Eine große Fragestellung bleibt die Nutzung des Hauses nach 1955, als der sowjetische Geheimdienst seine Zuständigkeit für deutsche Staatsbürger verlor. Danach waren ausschließlich sowjetische Militär- und Zivilangestellte inhaftiert. Da ist die Lücke am größten, da die Archivsituation sehr kompliziert ist in Russland heute. Wir sind froh, trotzdem mehrere Schicksale aus dieser Betroffenengruppe zeigen zu können. Es ist auch noch ungeklärt, wer und wie viele Menschen insgesamt hier inhaftiert wurden. Viele Unterlagen sind nicht zugänglich. Deshalb haben wir die Projektidee entwickelt, ein Haftbuch zu erstellen, das Namen, Lebensdaten und Informationen über den Haftzeitraum aller Häftlinge der Leistikowstraße enthält.

Frau Reich, das Gros der Arbeit in der Leistikowstraße ist getan. Jetzt könnten Sie doch die Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße 54 übernehmen?

Ich habe keine beruflichen Ambitionen, mich zu verändern.

Die Trägerschaft der Lindenstraße wird diskutiert. Es könnte auch die Brandenburgische Gedenkstätten-Stiftung sein.

Da haben andere uns ins Gespräch gebracht.

Kein Thema also?

Es ist eine politische Entscheidung. Für uns vor Ort ist jetzt das Wichtigste, dass wir mit der Leistikowstraße einen erfolgreichen Vollbetrieb aufnehmen. Da wartet viel Arbeit auf uns. Oft kommen erst nach Ausstellungseröffnung Zeitzeugen oder Angehörige, um der Gedenkstätte Dokumente oder Erinnerungsstücke zu übergeben.

Das Interview führte Guido Berg

ZUR PERSON:

INES REICH wurde im März 1966 in Oranienburg geboren. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Potsdam. Für ihre Promotion über den NS-Widerständler Carl Friedrich Goerdeler konzentrierte sie sich auf die Geschichtswissenschaften. Ihre „Liebe zur Ausstellung“ weckte ein Praktikum im „Haus der Geschichte“ in Bonn. Ihre erste eigene Ausstellung ist in der Henning-von-Tresckow- Straße zu sehen: „Potsdam und der 20. Juli“. Seit 1997 war Ines Reich wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen und zuständig für das sowjetische Speziallager Sachsenhausen. Seit 2009 leitet Ines Reich die Gedenkstätte Leistikowstraße und forscht für die neue Dauerausstellung. Sie ist Mutter einer fünfjährigen Tochter.

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