zum Hauptinhalt
Brunhilde Hanke von 1961 bis 1984 Potsdamer Oberbürgermeisterin.

© Ottmar Winter

Interview | Ex-Oberbürgermeisterin Brunhilde Hanke: „Jetzt kommen alle Erinnerungen wieder hoch“

Als der Zweite Weltkrieg endete, war Brunhilde Hanke 15 Jahre alt. Hier spricht die frühere Potsdamer Rathauschefin über das Leid in der Ukraine und ihre eigenen Kriegserfahrungen.

Von Carsten Holm

Frau Hanke, wie sehr beschäftigt Sie der Krieg in der Ukraine?
Jeden Tag. Von morgens bis abends. Die furchtbaren Nachrichten im Radio, diese schrecklichen Bilder im Fernsehen von den zerstörten Städten und dem Leid der Menschen. Es belastet mich sehr.

Sie haben mit Ihrem 2015 in Potsdam verstorbenen Mann Helmut, einem Professor für Kulturtheorie, zwei Töchter und einen Sohn. Sprechen Sie mit ihnen über den Krieg?
Ja, natürlich, mit allen in unserer großen Familie. Am Sonntag vergangener Woche war der Krieg ein Thema, als ich mich mit meiner in Teltow lebenden Enkelin, ihrem Mann und meinen beiden Urenkelinnen im Drachenhaus von Sanssouci traf. Wir hatten ein Kaffeetrinken anlässlich meines 92. Geburtstags verabredet. Die Kinder sind acht und zehn Jahre alt, aber sie fragten danach.

Wie nehmen die beiden Mädchen auf, was in der Ukraine geschieht?
Sie wissen, dass Krieg schrecklich ist und Menschen sterben. Ich habe ihnen dann erzählt, dass in der DDR die Produktion von Kriegsspielzeug jahrelang verpönt und verboten war, bis die Gesellschaft militarisiert wurde. Aber das hat die beiden Mädchen nicht sehr interessiert. Sie wollen lieber Prinzessinnen sein. Und es war auch schon in meiner Kindheit so: Für Jungen hat der Krieg, so schrecklich er ist, sogar etwas Abenteuerliches.

[Was ist los in Potsdam und Brandenburg? Die Potsdamer Neuesten Nachrichten informieren Sie direkt aus der Landeshauptstadt. Mit dem Newsletter Potsdam HEUTE sind Sie besonders nah dran. Hier geht's zur kostenlosen Bestellung.]

Sie sind in Erfurt geboren und aufgewachsen, Sie haben dort das Kriegsende als junges Mädchen miterlebt. Werden die Erinnerungen jetzt wieder wach?
Ja, das kommt jetzt alles wieder hoch. Ich war 1945 gerade 15 Jahre alt, und nun habe ich andauernd vor Augen, was ich damals gesehen habe. Erfurt ist anders als Dresden und Hamburg von massiven Flächenbombardements verschont geblieben, trotzdem wurden 530 Gebäude durch Luftangriffe zerstört.

Gab es viele Fliegeralarme?
Ja, und es gab bestimmte Regeln. War der Alarm vor Mitternacht zu Ende, begann die Schule um 8 Uhr. Dauerte er bis nach Mitternacht, war um 10 Uhr Schulbeginn.

Wurde auch Ihr Elternhaus beschädigt?
Wir wohnten in der zweiten Etage eines Mietshauses, als im Frühjahr 1944 die Sirenen bei einem der vielen Fliegeralarme heulten, und meine Mutter mit mir und meinen beiden jüngeren Schwestern über eine schmale Treppe in unseren Luftschutzkeller lief. Mein Vater war 1941 als Soldat an die Ostfront einberufen worden. Meine Geschwister, sechs und drei Jahre alt, wurden immer angekleidet ins Bett gebracht, es musste dann ja schnell gehen. Und dann wurde unser Haus von einer Fliegerbombe getroffen, sie galt wohl der Malzfabrik in der Nähe.

Wer im Keller war, überlebte den Angriff?
Die Mütter saßen da, manche in Decken gehüllt. Sand stand bereit, damit man ein Feuer hätte löschen können. Die Mütter hatten ihre Kinder auf dem Schoß und schrien vor Angst. Auch meine Mutter war in Todesangst um uns. Erst flackerte das Licht, dann ging es aus. Das ganze Gebäude zitterte. Und plötzlich war der Kellerraum voller Staub, der sich aus den alten Mauern löste und ausbreitete. Ich habe das alles noch genau vor Augen, wenn ich davon erzähle.

Und dann war wieder Ruhe?
Ich erinnere mich daran, dass eine Frau rief: Lieber zehn Jahre trocken Brot, aber keinen Krieg mehr. Im Keller hatten alle überlebt, niemand war verletzt. Ein älterer Mann, unser Luftschutzwart, leuchtete mit einer großen Taschenlampe alles ab und sagte, das Haus sei stabil geblieben. Nur waren durch den Druck der Bombe alle Fenster zerstört, Türen eingedrückt und Spiegel zersprungen. Und ich habe, obwohl ich zwar getauft und konfirmiert, aber nicht gläubig war, gebetet: Lieber Gott, beschütze meinen Papa! Lass ihn wieder nach Hause kommen! Wir haben danach die Stadt verlassen und sind aufs Land gezogen, unsere Wohnung war nicht mehr bewohnbar.

Wohin?
Wir besaßen, eine halbe Fahrradstunde von der Stadt entfernt, einen Schrebergarten, vielleicht 300 Quadratmeter groß. Mein Vater hatte dort eine Hütte gebaut, gegen die Kälte haben wir sie von innen mit Kohlesäcken abgedichtet, die mit Sand gefüllt waren. Lebensmittel waren rationiert, es gab ja Lebensmittelkarten und in der Nähe nicht mal ein Geschäft. Aber wir hatten Kaninchen und viel gepflanzt: Blumenkohl der Sorte Erfurter Zwerg, Kohlrabi, die großen, berühmten Erfurter Puffbohnen, Möhren, Zwiebeln.

Sie fühlten sich auf dem Land sicherer?
Ja. Luftangriffe gab es da nicht. Einmal aber habe ich eine gefährliche Situation erlebt. Ich war mit einem Fahrrad aus der Erfurter Innenstadt zu unserem Schrebergarten unterwegs, als zwei ältere Männer schrien: Mädchen, schmeiß dich hin. Ein Flugzeug kam im Sturzflug aus dem Himmel und schoss Salven auf ganz normale Zivilisten am Boden. Sie trafen niemanden. Wir dachten: Vielleicht haben sie nur aus Spaß geschossen.

Wie lange dauerte es zu begreifen, dass es knapp war?
Das ist mir erst zwei, drei Jahre später klar geworden.

Sie hatten als 14-Jährige schon Verantwortung. Sie waren eine so genannte Melderin. Was war Ihre Aufgabe?
Ich musste nach einem Angriff zu einer Stelle laufen und melden, wenn ein Keller verschüttet war. Ich fand das toll. Aber ich hatte oft Angst um meine Oma Berta, meine Großmutter mütterlicherseits. Sie war eine sehr wichtige Bezugsperson für mich.

Sie wohnte auch in der Stadt?
Sie hatte eine Wohnung nahe des Rathauses. Eines Tages hatte ich gehört, dass es dort einen Volltreffer gab. Ich bin sofort dorthin gelaufen. Das ganze Haus war eingestürzt, alle im Luftschutzkeller waren umgekommen. Meine Großmutter hatte aber in einem Gang gestanden und wurde durch den Druck der Bombe nach oben geschleudert. Als ich ankam, hatte man sie gerade mit den Händen ausgebuddelt. Am Nachbarhaus habe ich meine ersten Toten gesehen. Eine Mutter mit vier Kindern lag da, äußerlich wie unversehrt. Das hat mich sehr erschüttert.

Haben Sie später vom Krieg geträumt?
Ich kann mich daran zumindest nicht erinnern. Aber wenn ich heute Sirenengeheul höre oder auch, wenn ein Feuerwerk abgebrannt wird, wenn Knallkörper in der Luft platzen, dann ist in derselben Sekunde alles wieder da. Das sind für mich seit meiner Kindheit die Geräusche des Krieges. 1948 war ich zum ersten Mal in Berlin und sah auch zum ersten Mal eine völlig zerbombte Stadt. Immer, wenn ich die Bilder aus der Ukraine sehe, denke ich daran.

Sie sind 1946, also kurz nach dem Krieg, der SED beigetreten. Hatte das auch mit dem Nationalsozialismus und dem Krieg zu tun?
Mit beidem. Mein Vater gehörte vor 1933 einer anarchistischen Gewerkschaft an und wurde nach dem Krieg Mitglied der KPD. Es ging ihm und auch mir um die Verurteilung des Krieges, aber auch um die soziale Frage, um Gerechtigkeit.

Sie sind 1952 nach Potsdam gekommen. Wie zerstört war die Stadt damals?
Das Zentrum war leer, wie ausgestorben. Man sah noch die Folgen der Bombennacht vom 14. April 1945. Das Dach der Nikolaikirche war noch nicht wieder gedeckt, Reste des Stadtschlosses standen noch, es wurde erst 1959 abgerissen. Eine ganze Reihe von Häusern am Kanal war beschädigt, überall gab es Einschusslöcher. Aber viel war auch schon getan worden: Der Schutt war von den Straßen geräumt, der Verkehr funktionierte wieder.

Mit Trümmerbahnen schafften die Menschen die Steine weg - hier an der Ecke Friedrich-Ebert-Straße/Ecke Yorckstraße.
Mit Trümmerbahnen schafften die Menschen die Steine weg - hier an der Ecke Friedrich-Ebert-Straße/Ecke Yorckstraße.

© Sammlung Lutz Hannemann

Die Sowjetunion war vor der deutschen Einheit der wichtigste Bruderstaat der DDR. Sie haben dort studiert, Sie sind mit ihrer Familie mehrmals durch das Land gereist. Schmerzt es Sie nicht auf besondere Weise, wenn Sie sehen, was Russland sich in der Ukraine an Schuld auflädt?
Vergessen Sie nicht, dass die Nähe der DDR zu Russland erzwungen wurde, wir waren von ihr abhängig. Aber ich finde es wichtig, zwischen Präsident Wladimir Putin und dem russischen Volk zu unterscheiden. Wir haben bei Reisen die einfachen Russen erlebt. Für die Jugendweihe unserer Kinder haben wir mit der Verwandtschaft zusammengelegt und ihnen Reisen in den Kaukasus, eine Schiffsfahrt auf der Wolga und nach Sotschi ans Schwarze Meer geschenkt. Wir haben erfahren, wie das arme Volk seinen Alltag bewältigt. Dass Putin die Ukraine überfallen hat, kann ich nur verurteilen. Man kann nicht auf diese Weise Geschichte korrigieren, das ist unfassbar. Und er hat seinem Volk schwer geschadet, er hat es völlig isoliert.

Was jetzt in Butscha geschehen sein soll, die mutmaßliche Massakrierung von teils gefesselten Zivilisten, sprengt einmal mehr den Rahmen des bisher Vorstellbaren.
Ganz, ganz furchtbar ist das. Jeder Krieg ist grausam, aber Butscha ist nochmals eine andere Dimension des Bösen. Ich hoffe, dass eine internationale Kommission dieses Kriegsverbrechen aufklären kann, so schwierig das sein wird. Denn die Experten müssten ja möglichst schnell am Tatort sein.

Putin hat die jahrzehntelange Entspannungspolitik in Europa zerschlagen. Es wird wohl Jahrzehnte dauern, das zu reparieren.
Ja, das ist jetzt alles kaputt. Ihm wird nie wieder jemand vertrauen.

Ein zerstörtes russisches Militärfahrzeug in Butscha. 
Ein zerstörtes russisches Militärfahrzeug in Butscha. 

© dpa

Sie waren Funktionärin der SED, gehören jetzt der Linkspartei an, deren Haltung zu Putins Krieg mitunter schwammig ist. Der jetzt abgelöste Alterspräsident Hans Modrow, der letzte Vorsitzende des Ministerrats der DDR, war sich kürzlich nicht sicher, ob in der Ukraine eine Invasion oder ein Bürgerkrieg stattfindet. Sie haben schon mehrfach mit der Partei gehadert. Auch jetzt?
Ich habe nicht nur einmal darüber nachgedacht, auszutreten und habe es dann doch nicht getan. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die harten Sanktionen zu einem schnelleren Kriegsende führen. Ich hoffe nur sehr, dass das Blutvergessen schnell aufhört. Ich erinnere mich an das Kriegsende 1945 in Erfurt. Die Gesamtkapitulation Nazi-Deutschlands war unterschrieben, es war Mai und alle Wiesen blühten. Am Erfurter Bahnhof standen viele Jeeps der Amerikaner, ich sah zum ersten Mal Schwarze. Aus ihren Jeeps ertönte laut so etwas wie Rhythm and Blues. Eine neue Zeit brach an. Ich hoffe, dass so etwas bald in der Ukraine geschieht.

Das Interview führte Carsten Holm

Zur Startseite