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Christian Kieser ist Ärztlicher Direktor des Bergmann-Klinikums und Chefarzt der Psychiatrie.

© Andreas Klaer

Interview | Bergmann-Chefarzt Christian Kieser: „Wir brauchen mehr Betten für Kinder“

Bergmann-Chefarzt Christian Kieser spricht über psychische Erkrankungen in Potsdam in der Pandemie - und neue Therapiemöglichkeiten.

Von Carsten Holm

Herr Kieser, ist die Pandemie für psychisch Kranke eine erhebliche Belastung?
Ja. Die vielen Restriktionen, die Kontaktbeschränkungen und die Lockdowns haben das Leben dieser Patienten zusätzlich erheblich erschwert.

Das heißt, dass sie sich in den zwei Corona-Jahren weniger als andere auf die Veränderungen im Alltagsleben einstellen konnten?
Sie haben unterschiedliche Phasen zur Bewältigung für sie schwieriger Situationen durchlebt und Strategien zum Umgang mit ihnen entwickelt. Nach einem Schockeffekt während der ersten Welle ist manchen beispielsweise bewusst geworden, wie wichtig es ist, was wir soziale Interaktion nennen: etwa die Pflege von Kontakten zu Nachbarn.

Kinder und Jugendliche scheinen unter sozialen Restriktionen besonders zu leiden. Ist die Zahl der Anrufe beim Krisen-Telefon für Kinder und Jugendliche, das Sie anbieten, nennenswert gestiegen?
Das Krisen-Telefon wurde während der ersten und der zweiten Welle intensiv genutzt, inzwischen ist die Nachfrage gesunken. Die Ursache dafür mag sein, dass Jüngere ihre eigenen Strategien im Umgang mit der Situation gefunden haben.

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In der vergangenen Woche gab es Berichte über eine Studie der Essener Uniklinik, die 27 Kinder-Intensivstationen befragt hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Suizidversuche von Kindern und Jugendlichen um 400 Prozent gestiegen seien. Gibt es solche dramatischen Entwicklungen auch in Potsdam?
Die Studie fußt auf Hochrechnungen, ich halte die Datenbasis bisher nicht für belastbar. Wir haben jedenfalls keinen Anstieg beobachtet.

Zu Ihren Hilfsangeboten zählt die psychiatrische Notaufnahme in der Aue. Haben Sie dort zu Corona-Zeiten noch freie Betten?
Wir können Menschen mit akuten und schweren Erkrankungen an sieben Tagen der Woche rund um die Uhr aufnehmen. An den meisten Wochenenden kommen acht bis zehn Patientinnen und Patienten in höchster Not zu uns. Wir halten immer zehn Betten frei. Das war vor Corona so und hat sich nicht verändert.

Wie kommen diese Patienten zu Ihnen?
Manche allein oder mit einem Taxi, andere fahren mit ihrem eigenen Auto vor oder werden vom Notarzt, vom Rettungsdienst oder von Angehörigen, Freunden oder Nachbarn zu uns gebracht.

Mit welchen Symptomen kommen Potsdamer in die Aue?
Sie sind häufig in tiefster Verzweiflung, manche überlegen, ihr Leben zu beenden. Die meisten Patienten, die sich bei uns in der Notaufnahme vorstellen, leiden unter einer Abhängigkeitserkrankung, haben Versuche unternommen, vom Alkohol wegzukommen und sind gescheitert, wobei ihre Abhängigkeit zum Teil ihre Familien und ihre Existenz zerstört hat. Sie stellen sich in der Aue mit unterschiedlichem Alkoholisierungsgrad vor. Die zweite große Gruppe sind Menschen mit Depressionen. Vor zwei Wochen brachten Nachbarn in der Nacht eine ältere Frau zu uns, eine Lehrerin, die seit zwei Jahren arbeitsunfähig ist. Sie hatte nur noch allein in einem völlig verdunkelten Zimmer gelebt, ihre Körperhygiene vernachlässigt und war stark abgemagert.

"Der Missbrauch und die abhängige Nutzung digitaler Medien nehmen zu."

Haben Sie auch Fälle der Abhängigkeit von digitalen Medien beobachtet, die durch Corona befördert wird?
Ja, der Missbrauch und die abhängige Nutzung digitaler Medien nehmen zu. Wir haben jüngst einen 22-jährigen Patienten aufgenommen, der seit zwei Jahren schwerst digital abhängig ist und nichts anderes mehr machte, als zuhause in seinem mittlerweile verwahrlosten Zimmer am Rechner zu kleben, sich kaum noch ernährt hatte und sich in einem suizidalen Zustand am Wochenende von seiner Mutter in die Notaufnahme bringen ließ.

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Haben Sie auch Potsdamer Bürger mit schizophrenen Erkrankungen in der Aue aufgenommen?
Patienten, die unter einer schizophrenen Psychose oder wahnhaften Störung leiden, sind die dritthäufigste Gruppe in unserer Klinik. Vergangene Woche kam ein 23-Jähriger stationär zu uns, der berichtete, dass Nachbarn ihn ständig beobachten, sich fremde Mächte in seinen Heizungsrohren verstecken und ihn drängen, sein Leben zu beenden.

Wie behandeln Sie solche Fälle?
Bei psychischen Erkrankungen werden sogenannte Komplexbehandlungen vorgenommen. Es gibt drei Säulen: Die Psychopharmaka-Therapie, die Psychotherapie und psychosoziale Interventionen wie etwa die therapeutische Beziehung und das therapeutische Milieu. Zum anderen werden unter diesem Konzept auch Versorgungsangebote wie beispielsweise die Akutbehandlung im häuslichen Umfeld und berufliche Rehabilitation zusammengefasst. Die Behandlungsprognosen sind inzwischen günstig.

Wie lange bleiben Ihre Patienten in der Aue?
Im Durchschnitt sind es drei Wochen.

Wenn Sie dann im Klinikum weiterbehandelt werden: Wie lange müssen sie dort auf einen Platz warten?
Bei Patienten, bei denen eine Indikation für eine stationäre Aufnahme vorliegt, gibt es dringende und weniger dringende Indikationen. In der Erwachsenen-Psychiatrie sind die Wartezeiten zumeist eine bis zwei Wochen, in der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie zwei bis vier Wochen und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mehrere Monate bis zu einem Jahr. Patienten, die akut oder schwer psychisch erkrankt sind oder sich in einer psychosozialen Krise befinden, können jederzeit und sofort aufgenommen werden.

Wie könnte die Wartezeit für Kinder und Jugendliche verkürzt werden?
Die Bettenkapazität muss erhöht werden, die Bettenzahl wird durch den Landeskrankenhausplan festgelegt. Und wir brauchen unbedingt mehr Betten, weil wir nicht nur für die Stadt Potsdam, sondern für eine Versorgungsregion mit 400 000 Einwohnern verantwortlich sind.

Scheuen sich Menschen mit psychischen Erkrankungen angesichts der Pandemie nicht, sich stationär behandeln zu lassen?
Es stellen sich tatsächlich weniger Patientinnen und Patienten für eine stationäre Behandlung vor, die Pandemie kann ein Grund sein. Zudem wünschen Patienten vermehrt nicht-stationäre Behandlungsformen. Wir nutzen diese Entwicklung, um von der sogenannten institutionszentrierten Behandlung zu einem patientenzentrierten Ansatz umzuschwenken. Wir wollen unsere Hilfe zu den Menschen bringen.

"Die Erlösquelle für die Kliniken ist vor allem das Bett, das muss sich ändern."

Und sie zuhause therapieren?
In unseren europäischen Nachbarländern hat man damit schon seit Jahren Erfolg. Mobile multiprofessionelle Teams unserer Klinik suchen die Patienten in ihrer Wohnung auf. Das ist natürlich nicht in suizidalen Krisen möglich, da müssen wir an der stationären Behandlung festhalten. Aber viele andere Patienten haben große Vorteile: die Lebensqualität in der eigenen Wohnung wird als besser empfunden, die Menge der verordneten Pharmaka ist geringer. Wir nennen diesen Behandlungsansatz Stationsäquivalente Behandlung.

Das klingt nach einer Revolution in der Psychiatrie.
Es ist eine stille Evolution. Es müssen noch einige Probleme gelöst werden, um dieses Modell weiter zu entwickeln. Das System der Finanzierung ist bisher zu starr. Die Erlösquelle für die Kliniken ist vor allem das Bett, das muss sich ändern. Wir benötigen mehr Flexibilität, um die Patienten bedarfs- und bedürfnisgerecht behandeln zu können.

Das Gespräch führte Carsten Holm

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