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Landeshauptstadt: Im Schicksal verbunden

Richard von Weizsäcker und Potsdam, eine Spurensuche: 1939 rückte er als junger Rekrut beim Infanterieregiment Nr. 9 ein. 1989 querte er als Staatsoberhaupt die Glienicker Brücke

Richard von Weizsäcker und Potsdam – einiges, was den Staatsmann, von dem das Land am Dienstag im Berliner Dom Abschied nehmen wird, und diese Stadt verbunden hat, ist bekannt. Er war Ehrenkurator für den Wiederaufbau der Garnisonkirche, und als er lange vor dem Mauerfall durch Sanssouci spazierte, fotografierte die Stasi. Doch Potsdam, das war noch viel mehr für Weizsäcker.

„Mein bewegendes Schlüsselerlebnis“ im gesamten Einigungsprozess vor 25 Jahren sei dieser Moment auf der Glienicker Brücke gewesen, notiert er in seine Memoiren. Wir schreiben Sonntag, den 12. November 1989, früher herbstlicher Nachmittag auf der erst seit 48 Stunden offenen Glienicker Brücke, sie ist menschenüberflutet. DDR-Grenzer haben Mühe, das Trabi-Fußgänger-Radler-Chaos zu steuern: „Und nun strömten wir hinüber und herüber mit ungläubig strahlenden Gesichtern und trugen unsere bewegten Herzen auf den Lippen“, schreibt er in seinen Erinnerungen: „Es war, als ob jeder jeden kannte.“

Natürlich kannte ihn – damals noch in der Villa Hammerschmidt zu Hause – jeder, als er zu dieser Stunde aus der Gedächtniskirche am Tauentzien kommend mit Walter Momper im Sog über die Brücke kam. Grenzer-Major Klaus Pohl begrüßte ihn, das doch in der DDR-Ideologie „fremde“ Staatsoberhaupt. Weizsäckers Linke fasste nach dem Ortsschild Potsdam über dem weißen, phosphorfarbigen Grenzstrich, als wolle er sich vergewissern, nicht zu träumen. „Was machen Sie denn hier?“, fragte er in seiner stets leicht ironischen Art den Autor. Und Pohl sollte ihm Antwort geben, was er denn von der Grenzöffnung halte: „Wir müssen erst einmal darüber nachdenken“, entgegnete der Chef der Brücke. Und die typische Weizsäcker-Antwort hieß: „Wir aber auch “

Nachdenklichkeit – das war das Markenzeichen des süddeutschen Adeligen mit dieser unnachahmlichen Noblesse und Selbstsicherheit. Damals, auf der Brücke, sprach er mit den Menschen, nahm Blumensträuße entgegen und mag wohl an die unzähligen Male gedacht haben, die er als Regierender Bürgermeister Berlins (1981 – 1984) sonntags mit seiner Familie durch Wannsee hindurch zur Brücke gefahren war: „Wo in der Mitte die Sperren und unerträglichen Wachen lauerten, die uns den seit der Jugend gewohnten Zugang nach Potsdam, meiner alten Garnisonstadt, versperrten. Wir fühlten uns damals wie gefangene Tiere hinter Gitterstäben“, heißt es in seinen Memoiren, die den Titel „Vier Zeiten“ tragen.

Weizsäcker zog es jedenfalls bereits weit vor dem Mauerfall immer wieder nach Potsdam, wo er 1939 als junger Rekrut beim Infanterieregiment Nr. 9 („Graf Neun“) in der damaligen Priesterstraße, dem heutigen Ministerium für Infrastruktur, einrückte. In Feldgrau durch den Staub des Bornstedter Feldes robbte, und 40 Jahre später Bornstedt wiedersah: Als Regierender unternahm Richard von Weizsäcker mit seiner Frau Marianne, geborene Kretschmann, viele Touren ins geliebte Preußen-Städtchen, das ihm Heimat – nach Stuttgart und Berlin – geworden war: „Mariannes Familie fand in Potsdam ihr Lebenszentrum, bis der Zweite Weltkrieg und die Teilung Deutschlands die Kretschmanns auseinander trieb.“ Die Weizsäckers besuchten regelmäßig die Gräber von Angehörigen und Vorfahren auf Lennés verwunschenem, waldigen Gottesacker, dem Bornstedter Friedhof: „Ein Friedhof, der noch heute auf seine Weise Zeugnis von den guten Seiten der preußischen Geschichte ablegt“, sinniert Weizsäcker in seinen Memoiren.

Bei Pfarrer Gottfried Kunzendorf, der sich engagiert der Ruhestätten der Opfer des fehlgeschlagenen Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 annahm, saßen die West-Berliner Gäste oft an der Kaffeetafel. Der Gedenkstein für Henning von Tresckow, Weizsäckers väterlichem Freund und Förderer beim Regiment, mag ihn auch immer wieder in seinen Bann gezogen haben. Der Offizier hatte seinen jungen Untergebenen – den Krieg über an vielen Fronten eingesetzt – in die Vorbereitungen des 20. Juli 1944 eingeweiht: „Um nicht von der Gestapo belauscht zu werden, fuhren wir mit dem Boot hinaus auf den Wannsee, wo wir ungestört reden konnten“, erinnerte sich Weizsäcker, wenn das Gespräch auf diese Zeit kam. Von Tresckows Selbstmord an der polnischen Front, um das gescheiterte Attentat wissend, verhinderte womöglich, dass Weizsäcker bei der mörderischen Suche der Nazis nach Mit-Verschworenen später in Verdacht und Lebensgefahr geriet.

Potsdam – das war in Wahrheit ein Teil seines Schicksals: Das Glück stand dem jungen Hauptmann – im Frühjahr 1945 gerade einmal 25 Jahre alt – zur Seite, als Potsdams dunkelste Stunde anbrach: die Bombennacht des 14. April 1945, jener tödliche Sonnabend in der von Flüchtlingen überfüllten Stadt. Mittendrin der junge Offizier – soeben aus Kopenhagen, wohin er, verwundet, aus dem ostpreußischen Kessel ausgeflogen worden war, kommend: „Ich ging in die Kaserne zu meiner Einheit, bekam die Genehmigung für einen Genesungsurlaub bei meiner Familie am Bodensee“, berichtete Weizsäcker, wenn das Gespräch auf diese dramatischen Stunden kam. „Potsdam war ja bis zu diesem Zeitpunkt fast heil geblieben – ich ging also durch den Lustgarten in Richtung Bahnhof und fuhr nach Berlin.“ Zu dieser Stunde war noch alles in preußischer Ordnung – das verdunkelte Stadtschloss, die Lange Brücke, die alten Häuser an der Alten Fahrt, das Quartier unter dem Reichsarchiv, dem späteren Landtag Denn das „Lancaster“-Geschwader aus England war zwar bereits aus Richtung Magdeburg kommend seit zwei Stunden unterwegs, aber erst nach Weizsäckers nichtsahnendem Aufbruch über Potsdam angelangt. „Als ich am Anhalter Bahnhof ausstieg, leuchtete der Himmel in Richtung Potsdam rot von den Flammen über der Stadt. Da wusste ich, was geschehen war. Wir alle waren entsetzt.“ Mit einem der letzten Züge gelingt Weizsäcker die Fahrt bis an den Bodensee, und er kommt unversehrt durch alle Fronten.

Der historische Gang über die Glienicker Brücke am 12. November 1989 – mutterseelenallein, ohne Leibwächter, in seinem hellen, immer schon von weither sichtbaren Wettermantel – blieb nicht Weizsäckers einziger Ausflug als Bundespräsident in die Potsdamer Nachbarschaft. Gut einen Monat später, am 17. Dezember 1989, macht er erneut auf der Brücke Station: Hier herrscht nun schon wieder ein strenges Regiment. Rot-weiße Sperrgitter säumen die Fußsteige. „Immer rechts halten“, heißt die Devise – rechterhand vom Westen kommend zurück, rechter Hand von Potsdam kommend zu Fuß in Richtung Wannsee. Weizsäcker steigt aus – ohne Hut und Mantel, plaudert mit den Passanten.

Sein Termin in der Noch-Bezirkshauptstadt: das Adventssingen in der Nikolaikirche. Manfred Stolpe, oberster Kirchenmann der DDR-Evangelischen, hat eingefädelt, was ein anschließendes „Gipfeltreffen“ kaschieren soll: Hans Modrow, nun wichtigster Funktionär auf DDR-Seite, und Manfred Gerlach als Staatsratsvorsitzender, sitzen mit Weizsäcker in der ersten Reihe. Dem Berliner Gast und gestandenen Protestanten gehen die altvertrauten Weihnachtslieder fröhlich von den Lippen. Modrow bleibt, in Ermangelung der Liedtext-Kenntnisse, stumm. Dennoch entwickelt sich später über die Jahre zwischen dem Bundespräsidenten und Modrow eine Art Männerfreundschaft.

Nach dem festlichen Gesang eilt die Prominenz hinaus ins Schlosshotel Cecilienhof, wo Stolpe im ersten Stock ein Privatissimum zwischen Weizsäcker und Modrow arrangiert hat – Stolpe, damals einer der Wortführer der Unterschriftensammlung „Für unser Land“, will den Bundespräsidenten für einen behutsamen Vereinigungskurs gewinnen. Man erörtert die damals völlig unübersichtliche Gesamtlage. Es sind die Tage, da Helmut Kohl in Dresden vor den Trümmern der Frauenkirche seine historische Rede mit der Formulierung „Wenn die historische Stunde es will“ in Richtung Einheit hält. Und noch vor Weihnachten 1989 geht das Brandenburger Tor auf, von dem Weizsäcker zu seinen Zeiten als Regierender in Berlin stets sagte, solange es geschlossen sei, bleibe die deutsche Frage offen.

Potsdam hat Weizsäcker nie losgelassen. Potsdam war und blieb sein – auch sehr emotional geprägtes – Terrain. Er war bei der Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Garnisonkirche dabei, seiner alten Soldatenkirche, wo die Rekruten sonntags auf den harten Bänken saßen und die Gesangbücher aufschlugen. Mitte der 1980er-Jahre sorgte er dafür, dass die Sacrower Heilandskirche, gut zu sehen von der Glienicker Brücke aus, nicht mehr Ruine sein musste. Er tat sich mit dem Herausgeber des Tagesspiegels, Franz Karl Maier, zusammen. Die gemeinnützige Tagesspiegel-Stiftung und der Senat gaben je 500 000 Mark, und Weizsäcker leitete das Geld an den Vertreter des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR weiter – an Manfred Stolpe.

Auf seinen Stock gestützt, immer hellwach, lakonisch, zur Ironie begabt. So erlebte man Weizsäcker auch in Potsdam zuletzt. Den Kopf im Gespräch etwas geneigt, vom Krieg her hatte er auf einem Ohr leichte Hörprobleme, ein Inbegriff von Adel. Von innerer Sammlung. Von aufrechter Haltung. Von Selbstgewissheit. Von tiefer Gläubigkeit. Im Wissen um Tradition und Besinnung. Und diese leicht süddeutsch gefärbte Stimme, die mit dem Klang seiner historischen „Befreiungs“-Rede vom 8. Mai 1985 im Gedächtnis bleibt. Richard von Weizsäcker lebte Werte, die Potsdam auch heute gut zu Gesicht stehen. Ob die Landeshauptstadt seiner im Stadtbild gedenkt? „Wir werden sehen“, wäre so eine Antwort. Ganz à la Weizsäcker.

Hans-Rüdiger Karutz

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