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Landeshauptstadt: Hunderte Tabletten pro Monat

Im Babymord-Prozess machten Gutachter am Dienstag bemerkenswerte Aussagen

Schlaatz - Im Babymord-Prozess am Potsdamer Landgericht hat sich ein erfahrener Gerichtsmediziner eindeutig positioniert: Der getötete, nur eineinhalb Jahre alte Junge sei durch ein Gemisch aus Morphin sowie einem Schlaf- und einem Beruhigungsmittel gestorben. Die ermittelten Werte seien zweifelsfrei tödlich gewesen und hätten auch bei einem Erwachsenen einen lebensbedrohlichen Atemstillstand bewirken können, machte am Dienstag der inzwischen in den Ruhestand gewechselte Rechtsmediziner Jörg Semmler im Zeugenstand deutlich. In seiner mehr als 40-jährigen Dienstzeit habe er solch einen Fall noch nicht erlebt, sagte der bis 2016 amtierende Direktor des Landesinstituts für Rechtsmedizin. Möglicherweise sei das Kind auch an die regelmäßige Einnahme von Morphin gewöhnt gewesen, dies lasse sich aber nicht beweisen.

Die tödliche Medikamentendosis bekam der Junge von dem tablettensüchtigen Angeklagten Ricardo H.: Dem 37-Jährigen wird wie berichtet vorgeworfen, dass er dem kleinen Sohn seiner damaligen Lebensgefährtin am Abend des 29. März 2014 heimlich die tödlichen Medikamente verabreichte – zusammen mit süßem Brei, damit das Kind die bittere Arznei nicht schmecken sollte. Noch in der Nacht starb das Kind in der gemeinsamen Wohnung am Schlaatz.

Der vom Gericht eingesetzte Berliner Psychiater und Neurologe Alexander Böhle schilderte am Dienstag zunächst die lange Sucht- und Krankheitsgeschichte des Angeklagten, die vor zwölf Jahren mit einer alkoholbedingten und äußerst schmerzhaften Bauchspeicheldrüsenentzündung begonnen habe. Zur Schmerzbehandlung habe H. das Morphin – früher als Morphium bekannt – erhalten und sei in der Folge danach süchtig geworden. Später kam eine Zuckerkrankheit dazu. H. habe sich nicht an Anweisungen der ihn behandelnden Mediziner gehalten und mehr Schmerzmittel als verordnet genommen. Dabei nutzte der Kurierfahrer offenbar über Jahre hinweg mehrere Arztpraxen, um an so viele Medikamente wie möglich zu kommen. Ein Abgleich bei den Krankenkassen habe laut Böhle beispielsweise für drei Monate im Jahr 2014 ergeben, dass sich H. in der Zeit rund 1400 starke Schmerztabletten verschreiben ließ.

Auch Rechtsmediziner Semmler sagte, bei einem Test im Zuge einer Vernehmung am 24. September 2014 habe man den Morphin-Wert des Angeklagten gemessen – er lag zehnmal so hoch wie bei dem verstorbenen Jungen und wäre für nicht an das Medikament gewöhnte Menschen absolut tödlich gewesen, so die Experten-Einschätzung. Der Körper des Angeklagten habe sich offenbar über die Jahre an den Medikamentenmissbrauch angepasst. Typisch für die Sucht seien auch die vom Angeklagten genutzten „Upper und Downer“, die den Organismus angeregt oder wieder heruntergefahren hätten – je nach Bedarf. Ferner hätten einige Mediziner aber auch den Eindruck gehabt, dass sich der Angeklagte „kränker machte, als er war“. Es sei für den Mann „ganz schwierig“, bei der Wahrheit zu bleiben. Zu weiteren Details des Befundes will sich der Neurologe am morgigen Donnerstag äußern. Dann geht es auch um die Frage, inwiefern H. schuldfähig ist.

Er selbst bestreitet die Vorwürfe, hat sich dazu vor Gericht aber nicht eingelassen. Als Motiv für die Tat nehmen die Ermittler indes eine krasse Selbstsucht an: Ricardo H. habe das Kind töten wollen, weil es nachts zu oft gequengelt habe und weil er sich um seine Beziehung zu der Mutter sorgte – diese hatte trotz des neuen Partners darauf bestanden, dass der leibliche Vater regelmäßig seinen Sohn sieht. Auf den Kindsvater sei H. sehr eifersüchtig gewesen, schilderte die Mutter am Dienstag erneut vor Gericht. Daher habe die rund einjährige Beziehung zu H. wenige Wochen vor dem Tod des Sohnes „sehr gekriselt“, auch wegen der Medikamentensucht ihres Partners sei man bereits „kurz vor der Trennung“ gewesen. Schon 2013 habe H. einmal seinem leiblichen Sohn im Teenageralter und einem Freund Schlaftabletten verabreicht, so die heute 30-Jährige: „Ich habe ihm damals gesagt, dass das nicht geht.“ Nach dem Tod ihres Kindes war man zunächst von einem natürlichen Tod ausgegangen. Die Frau hatte sich von H. getrennt, auch weil er sich nur wenig empathisch gezeigt habe. Daraufhin habe dieser sie gestalkt, einmal auch mit dem Auto angefahren. Dennoch kauften sie wenige Wochen später noch zusammen einen Opel Corsa. Vor Gericht sagte sie zur Begründung, der Mann habe es eben geschafft „einen einzuwickeln“ – bis die Frau, die zwischenzeitlich auch unter Verdacht stand, von der Vergiftung des Kindes durch die Ermittler erfuhr. Im Gericht tritt sie nun als Nebenklägerin auf.

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