zum Hauptinhalt

Historische Straßenbahn in Potsdam: Polyamid-Faser statt Ziegenhaar

Die historische Lindner-Tram von 1907 erhielt ihre originalgetreuen Sitzbezüge zurück und ist damit in Deutschland einzigartig.

Potsdam - Man traut sich kaum, sich hinzusetzen: Rund 11 000 Euro haben die zwölf rot-goldenen Sitzbezüge mit dem märkischen Adler-Wappen gekostet, die nun den historischen Lindner-Triebwagen Nr. 9 zieren. „Es ist einfach toll geworden“, freute sich Ivo Köhler bei der gestrigen Vorstellung der neu ausgestatteten Tram. Für den Vorsitzenden des Historische Straßenbahn Potsdam e.V., der stilecht in Schaffner-Uniform erschien, ist der Triebwagen aus dem Jahr 1907 damit nun vollständig rekonstruiert – so fuhr man tatsächlich zu Kaisers Zeiten durch Potsdam.

Damit ist das Fahrzeug einzigartig, denn selbst in Berlin, wo noch viel mehr und viel ältere Straßenbahn-Wagen in den Depots stehen, gibt es aus dieser Zeit kein ähnliches Fahrzeug mit dieser Ausstattung: „Nach meiner Kenntnis sind wir in Deutschland so ziemlich die Einzigen, die so was haben“, sagt Köhler.

Ein Foto von 1908 als Vorlage

Für die originalgetreue Rekonstruktion der Sitzpolster, die vor hundert Jahren meist zu besonderen Anlässen und an kalten Wintertagen aufgelegt wurden, standen kaum Quellen zur Verfügung: „Wir hatten nur dieses eine Foto von 1908“, sagt Torsten Bäz und hält ein Schwarz-Weiß-Bild vom Innenraum der Tram hoch. Zusammen mit Peggy Wunderlich ist er Inhaber der sächsischen Camman Gobelin Manufaktur, bei der schon Walter Gropius, Konrad Adenauer oder der Moskauer Kreml Kunde waren. Über ein Jahr dauerte die Arbeit an den Bezügen.

Doch das Foto ist schwarz-weiß – woher wusste man, welche Farbe die Stoffe hatten? „Laut Zeitzeugen sollen sie rot gewesen sein“, so Bäz. Glücklicherweise war die Silberplatten-Aufnahme von guter Qualität – so konnten bei der Vergrößerung noch weitere Details entdeckt werden: „Wir sahen, dass an den Rändern auch noch Kordeln angebracht waren“, sagt Bäz. Diese wurden von der Jende Prosamenten Manufaktur in Forst hergestellt. Dritter im Bunde war der auch schon in Sanssouci tätige Raumausstatter Thomas Weichelt aus Dresden, der die Gewebeteile passend konfektionierte und Borteneinfassungen hinzufügte.

Nur in einem Punkt nicht ganz authentisch

Das Ergebnis überzeugt: „Wir haben uns mit Historikern und Denkmalschützern beraten und sind uns sicher, dass wir hinsichtlich Optik und Haptik das Erscheinungsbild der damaligen Zeit getroffen haben“, resümiert Bäz. Nur in einem Punkt war man nicht ganz authentisch: Früher wurde für solche Überwurf-Decken unter anderem Ziegenhaar verarbeitet, darauf hat die Camman Gobelin Manufaktur zugunsten moderner Materialien verzichtet.

Es musste zunächst mit verschiedenen Garnen, Material-Kombinationen und Bindungsbildern experimentiert werden, bis man den originalen Textilen nahegekommen war. Zugleich sollten die Bezüge komfortabel und robust sein: „Die unter anderem von uns verwendete Polyamid-Chenille ist angenehm flauschig und wenig schmutzempfindlich“, sagt Peggy Wunderlich über das von der Manufaktur hergestellt Jaquard-Gewebe.

Kleine Details fehlen aber noch

Nun ist der nostalgische Triebwagen noch etwas gemütlicher, als er es ohnehin schon war. Lediglich kleine Details fehlen noch: „Im Dezember wird in die hintere Tür eine Schaffner-Klappe eingefügt“, sagt Ivo Köhler. Wenn es genügend Spenden gibt, soll irgendwann auch noch ein Beiwagen aus der selben Zeit rekonstruiert werden, einige Bauteile sind laut Köhler noch vorhanden.

In Potsdam ist der Triebwagen Nr. 9 mit Abstand die älteste historische Tram, danach kommen die zwei Gotha-Straßenbahnen aus den 60er-Jahren, die ebenfalls gelegentlich auf Sonderfahrt durch die Stadt rattern. Für den Wiederaufbau des Lindner-Wagens hat der Verein Historische Straßenbahn Potsdam bislang insgesamt 391 000 Euro Spenden gesammelt, die Rekonstruktion dauerte von 2008 bis 2012.

Wer den Triebwagen sehen oder selbst mit ihm fahren will, sollte sich den 18. September vormerken: Dann wird die historische Tram im Rahmen des Potsdamer Umweltfestes von 13 bis 17 Uhr zwischen Platz der Einheit und der Station Viereckremise verkehren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false