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Historische Herausforderung: Flickenteppich der Vergangenheiten

Mythos – Zankapfel – Erinnerungsort: Der renommierte Potsdamer HIstoriker und Politikwissenschaftler Martin Sabrow über die Garnisonkirche in der deutschen Erinnerungskultur (Teil 3/Schluss)

Die Garnisonkirche spaltet die Stadt wie kein anderes Potsdamer Wahrzeichen. Seit Jahren laufen die Bemühungen, die 1732 eingeweihte Barockkirche wiederaufzubauen. Doch dagegen gibt es Widerstand. Er ist vor allem in der widersprüchlichen Geschichte des Gotteshauses begründet, das mit dem „Tag von Potsdam“ verbunden wird, beim alliierten Luftangriff am 14. April 1945 zerstört und dessen Ruine im Juni 1968 auf Beschluss der DDR-Führung gesprengt wurde. Der renommierte Historiker und Politikwissenschaftler Martin Sabrow, der das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) leitet, hat in einem aufsehenerregenden Vortrag mit Mythen um die Garnisonkirche aufgeräumt, deren Geschichte offenbar gerade 1933 und 1968 ganz anders verlief, als viele zu wissen glauben. Die PNN veröffentlichen den Vortrag in leicht gekürzter Fassung in drei Teilen.

Heute: Der Abriss der Garnisonkirche 1968 und das Wiederaufbauprojekt nach 1989 (Teil 3/Schluss)

Den Tod dieses Mythos (des „Tag von Potsdam“, d. Red.) veranschaulichte die Gestalt der Garnisonkirche nach dem Untergang des NS-Staates. Wie ein Menetekel ragte bei Kriegsende ein 57 Meter hoher Kirchenstumpf in die Höhe, in dessen Erdgeschoss sich die Gemeinde neu einrichtete und eine provisorische Kapelle mit 100 Plätzen gestaltete. Die Zukunft der Garnisonkirche hing fortan von der Frage ab, inwieweit sie sich von ihrer historischen Kontaminierung loszusagen vermochte. Ein erster geschichtspolitischer Reinigungsakt galt schon dem Namen der Kirche, die 1949 in „Heilig-Kreuz-Kirche“ umgetauft wurde. Dennoch entging sie ihrem Schicksal nicht. Nach zwanzig Jahren eines zwischen Verfall und unzulänglicher Sicherung schwankenden Schwebezustandes wurde die Ruine auf Beschluss der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung im Frühsommer 1968 abgerissen, um Platz für den Bau eines neues Rechenzentrums zu schaffen. Dieser kulturelle Zerstörungsakt, der einen der schönsten Kirchentürme des norddeutschen Barock vernichtete, wird bis heute als „reiner Willkürakt“ und geschichtspolitische Antwort der zweiten deutschen Diktatur auf die geschichtspolitische Ermächtigung der Kirche durch die erste deutsche Diktatur verstanden und in eine Reihe mit der Sprengung der Stadtschlösser von Berlin und Potsdam gestellt. Doch auch in diesem Fall liegen die Dinge verwickelter: Nicht um das Bauschicksal der Kirche ging es der SED-Führung, sondern um die Geltungskraft eines sozialistischen Gegenmythos.

Zunächst überrascht, dass die Ruine erst fast zwanzig Jahre nach Gründung der DDR abgerissen wurde, während das Potsdamer Schloss schon im Januar 1960 gesprengt worden war und das Berliner Schloss bereits 1950. Auffällig ist weiterhin, dass dem Abriss keine öffentliche Kampagne vorausging und die SED-Führung sogar eine Debatte über den Wert oder Unwert dieses historisch so stark konnotierten Erinnerungsortes geflissentlich zu vermeiden suchte. Auch waren die Behörden überaus uneinheitlich mit dem Gebäude der ehemaligen Garnisonkirche umgegangen. Zwei Jahrzehnte lang, bis Ende 1966, waren an ihr laufende Sicherungs- und Instandsetzungsarbeiten durchgeführt worden, die zum Teil erhebliche Kosten verursacht hatten; gerade erst war mit dem Einbau von Stahlbetondecken in den vier Turmebenen begonnen worden. Und noch im Winter 1965 fand sich eine Bildunterschrift in der SED-Zeitung „Märkische Volksstimme“, die über die abgebildete Ruine der Garnisonkirche anmerkte, „eines Tages werden wohl die nur noch traurigen Mauerreste noch weichen müssen“. Von SED-Seite als „Mißbrauch der MV durch reaktionäre Kreise mit Duldung der CDU“ bewertet, hatte sie zu einer scharfen „Maßregelung der Verantwortlichen“ geführt. Die Zeitung beeilte sich daraufhin, ihren Irrtum öffentlich zu korrigieren: „Von einem Abriß der Garnisonkirche kann insofern keine Rede sein, als die dank gemeinsamen (sic!) Bemühungen kirchlicher und staatlicher Stellen als Kirchenbaudenkmal erhalten wird.“ Zu diesem Befund passt, dass die Abrissentscheidung nicht nur in der Stadtverordnetenversammlung auf Widerstand traf, sondern auch in der Parteiführung selbst bis zum Schluss umstritten blieb. Nicht nur die Potsdamer Oberbürgermeisterin trug die Entscheidung nur ganz contre coeur mit und versuchte über den DDR-Kulturminister Klaus Gysi die Sprengung der Ruine zu verhindern; ausgerechnet der bei der Exekution des Abrissbeschlusses in vorderster Linie agierende Stadtrat Nutbohm hatte zuvor ein eigenes Memorandum verfasst, in dem er den kunsthistorischen Denkmalswert der Ruine unterstrich und angesichts der Stimmung in der Bürgerschaft die Teilkonservierung der Ruine als antifaschistisches Mahnmal empfahl.

Ob die Kirche stehenblieb oder niedersank, konnte am Ende fast eine Zufallsentscheidung sein – ebenso wie die Entscheidung der SED, das Berliner Schloss abzureißen und das Zeughaus ebenso wie den Dom stehenzulassen bzw. zu rekonstruieren. Wichtiger war, dass Erhalt wie Abriss nicht der Idee der sozialistischen Moderne entgegenstanden, die die Vergangenheit nur dort duldete, wo sie „Fortschritt“ und „Zukunft“ begünstigte. Ich glaube, dass die in der Presse veröffentlichte Abrissbegründung nicht bloß eine billige Zwecklüge war, sondern den Kern eines kommunistischen Gegenmythos formulierte: „Der Ausbau der Fahrbahn in der Wilhelm-Külz-Straße erfolgt sechsspurig. Die Ruine der ehemaligen Garnisonkirche würde dann jedoch in die Fahrbahn hineinragen. Hinzu kommt, daß auf dem Grundstück der Kirche und an der Plantage mit dem Aufbau einer Datenverarbeitungs- und Rechenstation mit einem Kostenaufwand von rund 50 Millionen Mark begonnen wird. Diese wichtige Einrichtung kann nur im Stadtzentrum geschaffen werden. Außerdem wird die Heiztrasse für die Fernwärmeversorgung des künftigen Stadtzentrums am ökonomisch günstigsten u.a. in der Wilhelm-Külz-Straße entlangführen. Diese drei Gründe waren der Beweggrund für den Abriss der Kirche.“

Wie die Ruine der Dresdner Frauenkirche hätte auch der Stumpf der Potsdamer Garnisonkirche stehenbleiben können, ohne die Denkmuster der SED-Führung herauszufordern, und nur darum konnte der Abtragungsbeschluss auch einen solchen Widerstand bis in die kommunalen SED-Eliten hinein erzeugen. Wie Jahrzehnte später unter ganz anderen Umständen der Palast der Republik, wurde auch die Garnisonkirche vor allem das Opfer ihrer Unterstützer. Nichts beflügelte die Entschlossenheit der Machthaber zur Kirchensprengung stärker als die gesamtdeutschen Interventionen von Kunstfreunden und Potsdam-Anhängern zugunsten ihres Erhalts, weil sie auf diese Weise die Mythenmachtfrage gestellt sah und nicht zögerte, sie in ihrem Sinne zu beantworten. Während vom „Tag von Potsdam“ die fotografisch festgehaltene Verbeugung der neuen Zeit vor der alten in Erinnerung blieb, setzte die DDR an die Stelle eines barocken Kirchturms den heute noch bestehenden Plattenbau mit umlaufendem Mosaikfries, der das Ausgreifen der siegreich voranschreitenden Menschheit in den Weltenraum versinnbildlichte und den Triumph der radikalen Moderne in der Formel „E = mc²“ feierte. In dieser Denkwelt des sozialistischen Modernemythos konnte der geringfügige Wärmeverlust in einer geplanten Heiztrasse zu einem ernsthaften Argument werden, das gleichrangig neben kunst- und stadthistorischen Gesichtspunkten rangierte und sie im Konfliktfall sogar überstimmte. Dieser Konflikt trat ein, wenn der sozialistische Modernemythos sich durch bauliche Vergangenheitszeugnisse in seinem Geltungsmonopol herausgefordert fühlte, und dann konnte er die in ihrer Erhaltungswürdigkeit lange Zeit unbestimmte Garnisonkirche aus ästhetischen wie aus ideologischen Gründen zugleich zu dem Schandfleck erklären, der der Steinehaufen der Dresdner Frauenkirche nie wurde, weil er nie als Ort eines falschen Mythos verstanden wurde: „Schöner denn je wird Potsdam wiederaufgebaut. ... Gespenstisch, aber mahnend zugleich erhebt sich, neben dem Neuen, noch gleichermaßen als Zeuge der finsteren Vergangenheit, die Ruine jener Stätte, in der 1933 die Hitlerfaschisten in den Sattel gehoben wurden“. Kurz: Die Bauzeugen der Vergangenheit mussten im SED-Staat dem Ansturm einer so emphatisch begriffenen Zukunft keineswegs gänzlich erliegen, wie dies die undifferenzierte These eines zelotischen Preußenhasses im SED-Regime suggeriert.

In Potsdam selbst stand neben dem Abriss der Garnisonkirche die gleichzeitige und kostspielige Rettung der Nikolaikirche, die als preußische Pickelhaube symbolisch kaum weniger belastet war und am „Tag von Potsdam“ ihrerseits eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hatte. Aber die Vergangenheit verlor im Denkhorizont des sozialistischen Modernemythos ihren auratischen Eigenwert und sank zum bloßen Zitat herab, zu einem Versatzstück, das in beliebiger Weise in den zukunftsgerichteten Verweiskontext des Städtebaus eingefügt werden konnte: In Berlin wurde etwa das Portal IV aus dem Schloss geborgen, um in das neu erbaute Staatsratsgebäude integriert zu werden.

Vor dem Hintergrund dieses historischen Mythenkampfes und ihrer geschichtspolitischen Frontstellung entfaltet sich die Debatte um den Wiederaufbau der Garnisonkirche. Aber sie steht mehr noch in einem eigenen Referenzrahmen, den wir als Zeitalter der Erinnerungskultur beschreiben können und der auf eigentümliche Weise Abstand und Nähe zur Vergangenheit zusammenzuführen sucht. Auf der einen Seite steht die Authentizitätssehnsucht, die das Geschichtsbewusstsein unserer Zeit prägt und ihm nachgerade sakralisierende Züge zu verleihen vermag. Unsere Erinnerungskultur bedient eine mittlerweile fast geschichtsreligiös zu nennende Suche nach dem authentischen Vergangenheitszeugnis, in dem das Relikt sich kaum noch von der Reliquie unterscheidet und etwa die Legitimation für die architektonische Neuschöpfung des Verlorenen aus der Einbeziehung originaler Fragmente erwächst. Auf der anderen Seite steht die Distanzierungskraft der Erinnerung, die zur Umkehr mahnt und die Schrecken der Vergangenheit wachhält, um vor ihrer Wiederkehr zu schützen.

In der Rede von der Vergangenheitsaufarbeitung kommen beide Seiten der Erinnerungskultur zur Deckung. Sie steht für eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die dem tiefenpsychologischen Anklang des Wortes zum Trotz nicht auf eine aus der Durcharbeitung erwachsende Befreiung von historischer Last zielt, sondern auf deren dauerhafte Präsenz zum Zwecke des historischen Lernens. (...) Erinnerung ist uns nicht billige Nostalgie, sondern eine Doppelbewegung von Distanznahme und Annäherung, und eben dies befreit den historisierenden Wiederaufbau deutscher Innenstädte und noch die Wiedererrichtung des Denkmals Kaiser Wilhelms am Deutschen Eck bei Koblenz von dem Ruch der reaktionären Rückwärtsgewandtheit.

Wenn der Wiederaufbau der Garnisonkirche trotzdem bis heute umstritten blieb, lag dies natürlich daran, dass die Umwertung vom Mythos zum Erinnerungsort durch die doppelte ideologische Inanspruchnahme im „Tag von Potsdam“1933 wie im Abriss 1968 nachhaltiger gestört wurde, als dies anderen Wiederaufbauprojekten vom Frankfurter Goethe-Haus bis zum Braunschweiger Schloss widerfuhr. Erschwerend kam hinzu, dass die in der „Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel“ organisierte Wiederaufbauinitiative das oberste Gebot der erinnerungskulturellen Mythendistanz so flagrant verletzte. In ihrer Kritik an evangelischer „Zeitgeisterei“, die „Schwulensegnung“ und „feministische Jesa-Christa-Lehre“ dulde, und in ihrem Eintreten für die Garnisonkirche als „Symbol für das christliche Preußen“ gab die Traditionsgemeinschaft sich eben den Anschein einer nationalkonservativen Gedächtnispflege, die mit dem Konzept einer originalgetreuen Wiederherstellung der Garnisonkirche einschließlich ihrer programmatischen Wetterfahne nur scheinbar der Authentizitätssehnsucht unserer Zeit huldige, in Wirklichkeit aber „in preußischer Verbundenheit“ politische und religiöse Ziele verfolge. Es scheint mir kein Zufall, dass diese Wiederaufbauinitiative rasch an ihre Grenzen stieß. (...)

Offenbar erfolgreicher agiert daher die heute tonangebende Fördergesellschaft, weil sie jeden nationalkonservativen Anstrich vermeidet und eine dezidierte symbolpolitische und entmythisierende Umwertung vornimmt, um die Authentizität der Kirche gegen ihre historische Kontaminierung zu retten: „Eine grundsätzliche Änderung der Symbolbedeutung ist allerdings vorgesehen: Die Vernichtungskraft der modernen Waffen und unsere geänderte Einstellung zum Krieg lassen die Darstellung des Krieges als legitimes Mittel der Politik nicht mehr zu. Deshalb werden in der Garnisonkirche weder Fahnen noch andere militärische Traditionsgegenstände aufbewahrt, sondern eindeutige Absagen an Krieg und Gewalt in geeigneter Form dargestellt werden.“

Aus zeithistorischer Perspektive wird das Projekt zum Wiederaufbau der Garnisonkirche nur dann seine Realisierungschance nutzen können, wenn es diese feine Trennlinie zwischen Mythos und Erinnerungsort nicht überschreitet und immer wieder deutlich macht, dass es darum geht, das Zeugnis der Vergangenheit zu restaurieren, nicht aber die Vergangenheit selbst. Der Wiederaufbau wird nur gelingen, so meine ich, wenn er die Nachgeschichte der Garnisonkirche nicht auslöscht, sondern vielmehr integriert: Nur als Flickenteppich unterschiedlicher Vergangenheiten lässt sich das historische Orientierungsbedürfnis unserer Zeit ganz befriedigen, und deswegen gehört zum Wiederaufbau der vergangenen Garnisonkirche auch der Erhalt relevanter Teile des auf ihren Fundamenten gebauten Rechenzentrums, dessen Mosaikfries bis heute von einem ebenfalls vergangenen Gegenentwurf kündet.

Martin Sabrow

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