zum Hauptinhalt
Im Wahlkampfmodus. Potsdamer SPD-Genossen beim 1. Kreistag der SPD am 3. Februar 1990 im damaligen Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Am Rednerpult Emil Schnell.

© Bernd Blumrich

Heute vor 30 Jahren: Erinnerung an die letzte Volkskammer-Wahl in der DDR

Heute vor 30 Jahren wählten die DDR-Bürger ihre letzte Volkskammer. Drei, die damals dabei waren, erinnern sich an chaotisches Arbeiten, volle Tage und vor allem große Euphorie.

Potsdam - Ein Bäumchen wird am schönen Frühlingstag, dem 17. März 1990, auf dem freien Platz vor dem Potsdamer Filmmuseum gepflanzt: eine Freiheitslinde, die, so Pfarrer Martin Kwaschik, Symbol für die gerade errungene Freiheit sein soll. Bürger und Politiker aller Gruppierungen sind dafür zusammengekommen, sogar Vertreter der früheren Sozialistischen Einheitspartei, nun in Partei des Demokratischen Sozialismus umbenannt, helfen schaufeln.

Die Freiheit ist noch jung an diesem Märztag. Und wird am Tag darauf, am 18. März 1990, neu sortiert. An diesem Sonntag finden in der DDR die ersten freien und demokratischen Volkskammerwahlen dieser politischen Wende, die sich mit dem Mauerfall im November 1989 Bahn brach, statt. Geplant war das zunächst nicht. „Die Wahlen sollten im Mai 1990 stattfinden“, sagt Steffen Reiche, damals Spitzenkandidat der SPD Ost, im Gespräch den PNN. „Aber wir haben schon im Januar gesehen, dass das nicht geht. Wir brauchten schnellstens demokratisch legitimierte Körperschaften und eine handlungsfähige Regierung.“

Steffen Reiche
Steffen Reiche

© dpa

Also wurden die Wahlen auf den 18. März vorverlegt. Heute vor 30 Jahren wurde das erste und letzte mal ein demokratisches DDR-Parlament gewählt – für kaum neun Monate. Am 3. Oktober 1990 gab es die DDR nicht mehr. „Die Volkskammer hatte den Auftrag, das Land, für das sie gewählt war, aufzulösen – das war schon etwas Einzigartiges“, erinnert sich Matthias Platzeck, damals in der neu gewählten Volkskammer Präsidiumsmitglied für Bündnis 90/Grüne. Zunächst musste die Volksvertretung überhaupt arbeitsfähig werden. Die Büros der neuen Abgeordneten sollten im Gebäude des Zentralkomitees in Berlin eingerichtet werden. Bei der ersten Besichtigung stießen sie in manchem Zimmer noch auf alte Kader. „Die saßen hinter ihren Schreibtischen und dann kamen wir, die neuen, lauter Männer mit Bärten“, sagt Platzeck. Fast alle der Abgeordneten kamen direkt aus ihren Berufen in die Politik, auch etwas Einmaliges. Man wollte zügig praktikable Lösungen erarbeiten und die Verhältnisse änderten sich rasend schnell. Platzeck: „Jeden Morgen fanden wir auf unseren Schreibtischen Stapel neuer Gesetzesvorlagen, die bis zum Abend bearbeitet werden mussten.“

Politiker und Pfarrer. Steffen Reiche 1990 im SPD-Extrablatt.
Politiker und Pfarrer. Steffen Reiche 1990 im SPD-Extrablatt.

© Ottmar Winter

Die Stimmung im Land: Euphorisch. „Wir waren wie in Trance“, sagt Steffen Reiche über die Monate vor und nach der Wahl. „Dinge, an die man vorher nicht mal gedacht hatte, waren plötzlich möglich.“ Reiche, Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei und Pastor, hoffte damals wie viele Parteimitglieder auf einen sanfteren Übergang, wie ihn SPD und Bürgerbewegungen favorisierten. Laut Wahlprognose sollte die SPD mit 44 Prozent stärkste Kraft werden. Das Ergebnis lag dann bei 22 Prozent.

Klarer Wahlsieger war die von Kanzler Helmut Kohl zusammengeschmiedete Allianz für Deutschland, die eine schnelle Wiedervereinigung anstrebte. „Ich kann das heute sogar verstehen, dass die Menschen so wählten“, sagt Reiche. „Sie hatten 40 Jahre auf diesen Moment gewartet, Sozialismus wollte keiner mehr.“

Der Wahlabend war frustrierend für alle, die SPD aber auch Bündnisgrüne, die mit 2,9 Prozent in die Volkskammer einzogen. „Die Stimmung im ,Haus für alle’ war extrem bedrückend an dem Abend“, sagt Reiche. Eigentlich hatte man eine Wahlparty feiern wollen, dort im früheren Stasigefängnis in der Lindenstraße, wo sich seit Januar die Geschäftsräume der neuen Parteien und Bewegungen befanden. Hier hatte sich in den vergangenen Wochen eine intensive politische, vom Bürger ausgehende Arbeit entwickelt. Reiche erinnert ihn auch als gruseligen, absurden Ort, in seiner Anmutung geschmacklos, geradezu eklig. Man fühlte sich in den Räumen, wo bis vor kurzem noch Menschen inhaftiert und verhört worden waren, im Grunde höchst unwohl, und dennoch konnte man hier wenigstens endlich arbeiten. „Hier konnte man sich treffen, hier konnte man endlich das ganze Material lagern, das bis dahin bei uns zu Hause lag.“

Umweltaktivist und Grünenpolitiker Matthias Platzeck ist am 17. März 1990 dabei, als vor dem Filmmuseum die Freiheitslinde gepflanzt wird.
Umweltaktivist und Grünenpolitiker Matthias Platzeck ist am 17. März 1990 dabei, als vor dem Filmmuseum die Freiheitslinde gepflanzt wird.

© Bernd Blumrich

Geschäftsführer der SPD Potsdam ist damals Emil Schnell. Der Physiker arbeitete bei der Akademie der Wissenschaften auf dem Telegrafenberg. Zusammen mit Rainer Speer und Steffen Reiche gründete er in Potsdam die SPD. Im Winter 89/90 musste man diese Partei aufbauen, Mitglieder gewinnen, inhaltlich arbeiten und einen Wahlkampf führen. Was die Arbeitsmittel betraf, begann man bei Null. Die Hilfe der Bonner SPD war immens wichtig für die Genossen. Die Bonner brachten einen kleinen roten VW, Wahlkampfmaterial und Kopiergeräte.

SPD-Wahlkampfzeitung im Jahr 1990.
SPD-Wahlkampfzeitung im Jahr 1990.

© dpa

Bis dahin hatte man zum Vervielfältigen Geräte benutzt, die mit Wachsmatritzen funktionierten. Außerdem hatte jeder an seinem eigentlichen Arbeitsplatz, im Büro, im Betrieb, Dinge politischer Arbeit abgewickelt: Unterlagen gedruckt, kopiert, und vor allem telefoniert. Nur wenige Privatpersonen besaßen ein Telefon. Im Haus in der Lindenstraße gab es zwar Telefone, aber man konnte nur innerhalb der DDR telefonieren, nicht in den Westen, nicht nach West-Berlin. Die Bonner SPD besorgte den Genossen schließlich ein schnurloses C-Netz-Telefon für das erste Mobilfunknetz. „Das war ein schweres, schwarzes Ding. Empfang hatte man nur an einer Stelle ganz oben unterm Dach, da gingen wir dann hin zum Telefonieren.“ Der West-Berliner Sendeturm war anfangs noch mit einer Abschirmvorrichtung auf Ostseite versehen, die erstmal abgebaut werden musste.

Die politische Arbeit lebte von persönlichen Kontakten. Und manchmal vom Zufall. „Man musste raus und war viel unterwegs, und wen man gerade traf, mit dem konnte man reden und auch Dinge entscheiden“, sagt Reiche. „Es war ja ein offenes Haus“, sagt Schnell, „die Menschen kamen rein, sprachen uns an, manche stellten gleich einen Mitgliedsantrag“. Nicht jeder wurde allerdings aufgenommen. Man musste sich im Ortsverein vorstellen, dann wurde über den Antrag abgestimmt. Man wollte dadurch vermeiden, ehemalige Stasileute aufzunehmen – ein schier unmögliches Vorhaben. Ibrahim Böhme, frisch gewählter SPD-Parteivorsitzender, wurde eine Woche nach der Volkskammerwahl als IM enttarnt. Emil Schnell wurde nach der Wahl am 18. März 1990 Minister für Post- und Fernmeldewesen der DDR. Sein Auftrag: in der DDR ein funktionierendes Telefonnetz zu errichten. Ohne Telekommunikation würde man keine neuen Strukturen und vor allem keine Wirtschaft aufbauen können. „Das ist ja auch geglückt. Die Telekom hat damals richtig geklotzt.“

Die letzte Volkskammer, auch wenn es sie nur wenige Monate gab, hatte vor allem wichtige Entscheidungen für die kommende Vereinigung von Ost- und Westdeutschland zu treffen. „Es ging unter anderem um Rentenregelungen und die Arbeit der Treuhand“, sagt Schnell. „Manchmal hatten wir 50 Termine am Tag, ich habe meine Kinder damals kaum gesehen.“ Schnell, heute 66 Jahre alt, ist bis 2002 Mitglied des Bundestags und zieht sich dann komplett aus der Politik zurück. „Mir fehlen Realpolitiker wie Willy Brandt und Helmut Schmidt“, sagt er. Steffen Reiche, 59 Jahre alt, ist später in Brandenburg unter Stolpe und Platzeck Bildungsminister und sitzt bis 2009 noch einmal im Bundestag. Heute arbeitet er wieder als Pfarrer in Berlin. Platzeck, Jahrgang 1953, wird erst Bürgermeister in Potsdam, dann bis 2013 Brandenburgs Ministerpräsident. Die Freiheitslinde vor dem Marstall: Sie steht noch und ist nach 30 Jahren ein richtiger Baum.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false